I N T E R V I E W „Der Vorstand hat sich entwertet“

■ Interview mit Helmut Wiesenthal zu seinem Rücktritt aus dem Grünen–Bundesvorstand

taz: Gibt es für einen realpolitisch orientierten Politiker im neuen Grünen–Bundesvorstand keine Arbeitsmöglichkeit mehr? Helmut Wiesenthal: Schon vorher war innovative Arbeit nur höchst eingeschränkt im Bundesvorstand möglich. Nachdem nun der gesamte geschäftsführende Vorstand exklusiv fundamentalistisch besetzt worden ist, bleibt für mich nur der Rücktritt. Ich will nicht die Legitimationsfigur für eine Richtung spielen, die ich längerfristig politisch für ganz falsch halte. Diese Strömung ist gewissermaßen Trittbrettfahrerin einer wachsenden grünen Wahlunterstützung, mit der sie nicht in Verbindung steht. Die vernichtende Niederlage haben sich die Realpolitiker durch ihr Wegtauchen während des Parteitages doch teilweise selbst zuzuschreiben. Es herrschte sicher ein Mangel an gescheiten Gegenkandidaten, die realpolitische Strömung war sich zudem nicht einig und es gab ein ungewohntes Wahlverfahren, so daß die drei Sprecher erstmalig ohne Minderheitenschutz gleichzeitig gewählt wurden. Die Realos haben doch über die Kandidaten überhaupt keine Diskussion erzwungen. Dies war eine unpolitische Versammlung. Sicher, wir haben zu wenig diskutiert, aber es war auch keine Stimmung dafür da, kontrovers zu diskutieren. Die derzeitige politische Konstellation verlangt von den Grünen keine bindende Entscheidung über die zukünftige Strategie und das führt dazu, daß man sich gehen läßt und meint, man brauche auch für die Zukunft nicht zu planen. Es wird ja überall in der Partei interessanter diskutiert, es gibt fast überall andere Mehrheiten als auf Bundesebene. Müssen die, die eine neue Politik umsetzen wollen, den Bundesvorstand jetzt boykottieren oder gar politisch bombardieren? Diese Versammlung und der Bundesvorstand haben sich durch den Akt selbst entwertet. Dem Vorstand wird zukünftig keine große Bedeutung zukommen. Die politisch innovativen Diskussionen werden in den Landesverbänden und vielleicht in der Bundestagsfraktion geführt. Bundesdelegiertenversammlungen bringen seit Jahren politisch ähnliche Ergebnisse. Wie kann man die parteipolitisch anderen Mehrheiten auch in Delegiertenstimmen umsetzen? Wir müssen die Mitgliederbasis in den Kreisverbänden ausbauen, denn es ist ja zum größten Teil der Arbeitsüberlastung in realpolitischen Zusammenhängen zuzuschreiben, daß die Delegierten auf den Bundesversammlungen nicht unbedingt repräsentativ sind für die Politik, die in der Mitgliedschaft breit gewünscht wird. Was wirst du jetzt tun? Ich empfehle allen Unzufriedenen an der Basis der Grünen, diese Phase als einen unerwarteten „Läuterungsprozeß“ zu betrachten, an dessen Ende wir nüchtern die Angebote fundamentalistischer Politik bewerten können. Ich werde diesen Prozeß im nordrhein–westfälischen Landesverband aktiv zu gestalten versuchen. Interview: Jakob Sonnenschein