Schwelendes Kreuzberg

■ Feuerwerk zur 750–Jahr–Feier in Berlin

In den Flammen von Freitag wird vieles wieder hochgewirbelt werden, der geschürte Haß gegen die „Anti– Berliner“ (Diepgen), die Gewaltdebatte, die Distanzierungszwänge; hochgewirbelt werden auch die alten Träume von der Revolution. Halb Berlin ist gegenwärtig auf der Suche nach den Motiven. Aber niemand sollte sich anmaßen, säuberlich zwischen Widerstandsaktionen und Zerstörungsaktionen zu trennen. Kreuzberger Volkswut entlud sich arbeitsteilig: die Autonomen auf den Barrikaden und alle Altersschichten bis hin zu Müttern mit Kopftuch beim Ausräumen der Supermärkte. Ventil für Unmut? Sind die sozialen Widersprüche von Berlin, von Kreuzberg, nur Sprengstoff, der auf die Lunte wartet? Sammelt sich Haß bei der schamlos hastigen Vermarktung Berliner Selbstbewußtseins im Jubiläumsjahr? Nein, es war nicht bloß Sturmlauf gegen die postmoderne Fassade, auch keine Explosion der Widersprüche, sondern eine Implosion der politischen Leere. Der Senat inszeniert Normalität, inszeniert eine westdeutsche Biederstadt mit weltpolitischem Handicap. Die Opposition von SPD und AL ist zu politisch aussichtsloser Mäkelei verkommen. Es gibt keine Perspektiven des Umschwungs. So war die Freitagnacht nicht nur ein „Exempel der Volkswut“, sondern auch ein Exempel, daß es mehr im Leben geben muß als Berliner Leben. Kreuzberg ist ein sanierter, ein „behutsam“ sanierter Bezirk. Aber es gibt das Elend, es gibt die Rebellen, die sich zur Folklore verdammt sehen, es gibt die Sanierungsgewinnler mit dem gehobenen alternativen Lebensstil und es gibt das Ghetto der Türken, das Freitag nacht auch durch die Straßen tanzte. Wer Kreuzberg erlebt, der weiß, Änderung ist angesagt. Aber welche, das wissen nicht einmal die Kreuzberger. Nicht nur der große historische Traum, sondern auch die soziale Realität und kulturelle Öde drängt zum Bedürfnis nach dem, was früher die „befreiende Aktion“ genannt wurde. Klaus Hartung