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Einstürzende Wiederaufbauten

■ Der taz–Analytiker nennt sechs Gründe für die überraschende Kreuzberger Mai–Randale / Das Wetter, die Polizei und siebenhundertfünfzig andere Motive

„Unerklärlich“ nannte die Tagesschau die Krawalle zum Ersten Mai in Kreuzberg und unterschlug völlig die Tatsache, daß mindestens ein halbes Dutzend Erklärungen auf der Hand liegen. 1. Meteorologische: Ende April 1987 erlebten die Bewohner von SO 36 die ersten warmen Tage. Bei Input von Sonne, Grün, Lebenssaft, -kraft usw. schaltet der Bio–Computer auf „Frühjahrseuphorie“ um, die nach einem von Frostrekorden Heizspitzenlasten gequälten Smog–Winter nicht unterschätzt werden sollte. Der 1. Mai war der erste schwüle Tag, leicht verhangen, trübe, aber warm schon um 8 Uhr früh, Mittags dann ein gewitter. Um 14 Uhr kracht der erste kleine Wolkenbruch der Saison runter. Dunst. Es liegt was in der Luft. 2. Mythologische: Es ist 750–Jahr–Feier und der Mythos Berlin wird Volldampf gefahren. Die einsame Insel Berlin–West feiert sich mit betonierten Cadillacs, umgedrehten Loks und allgemeiner Bahnhofs–Mystifizierung als Verkehrsknotenpunkt. Großvaters Zeiten werden exponiert. Im Rahmen dieser allgemeinen Nostalgie hat sich auch die Kreuzberger Scene erinnert - an die allerjüngste Vergangenheit und was daraus geworden ist - und ihren kritischen Beitrag zur Stadtinszenierung pünktlich geliefert. Die Einstürzenden Wiederaufbauten: „Bolle brannte jüngst vor Pfingsten, ansonsten war nicht viel...“ Schließlich hat SO 36 einen anarcho–avantgardistischen Ruf zu verteidigen, auch wenn die Kudamm–Deppen den Mythos „Häuser–Kampf Berlin“ in der Barrikaden–Plastik partout nicht entdecken. Von „Erlebnis–Räumen“, „Partizipations–Happening“ u.ä. ist in den Inszenierungen zur 750–Jahr–Feier permanent die Rede, in Kreuzberg wird der Begriff (ohne ihn zu kennen) beim Wort genommen. 3. Logische: Wer in der Nacht zum Demonstrationstag der hart arbeitenden Bevölkerung ein Zentrum derselben überfällt und in einer „erfolgreichen Aktion“ (Innensenator Kewenig) 1.000 Volkszählungs–Flugblätter beschlagnahmen kann, sollte auch die Hochsicherheit der „Ausschreitungen“ vorausberechnen können. Wer um einen rappelvollen, von Hochbahn, Kirchturm und schwüler Luft bedrängten Platz Polizei–Wannen auffahren und Tränengas strömen läßt, kennt das Kessel–Syndrom. Wer dann noch halbwegs sieht, wie den bewegten Bewohnern Kreuzbergs neben der täglichen Scheiße vor Augen Zähl–Terror und Mietpreishorror im Nacken sitzen, der könnte im besten Falle vom Kultursenator beauftragt sein, an diesem Tag, wo gerade mal wieder „auf diese Stadt“ geschaut wird, die Scene in Szene zu setzen. 4. Kriminologische: Der spazierenden Melderin einer autonomen Radarstation zufolge herrschte auf dem Polizei–Funk das blanke Chaos. Der Mai– Ausflug der Staatsmacht entwickelte sich zum Debakel. Nicht wegen mangelnder Schlagfertigkeit der Truppe - auch hier tut die Frühjahswärme ihren Teil - sondern wegen einer Doppelnullösung auf den Gebieten der Strategie und Taktik. Konzeptlos, aber mit Tatütata bis 4 Uhr früh rollte die Blechbüchsenarmee comichaft um die Kiezecken. Dabei weiß in SO 36 jeder Köter, daß er auf einer Baustelle lebt - Pflastersteine an jeder zweiten Ecke zuhauf, Absperrgitter, Bauwagen, Schutt und Sperrmüll, ein Abenteuerspielplatz. 5. Politische: Erschrocken zeigen sich die Kommentatoren der Ereignisse über das „Ausmaß der Gewalt“. Wer die Ruhe, die drei Jahre lang in Kreuzberg herrschte, als Normalzustand ansieht, muß wohl auch erschrecken. Nur: Ist diese Ruhe normal? Sind die „Probleme“, hinter die die Hausbesetzer vor Jahren ein Ausrufungszeichen setzten, wirklich erledigt? Haben Wohnungsnotstand, Alkoholismus und allgemeine Depression in SO 36 dank Lummer, IBA und Orlowsky plötzlich ihr Ende gefunden? 6. Dialektische: Der Regierende, der sich zum Festtag zumindest bis zur Halskrause aus dem Berliner Sumpf freigestrampelt hat, hält den Piefkes beim Spandauer Altstadtfest die „Anti–Berliner, die in Kreuzberg Krawall machen“, entgegen. Hat zivile Zählboykott endlich kriminalisiert werden kann? Bescheren so die Erniedrigten und Benachteiligten in SO 36 den Restberlinern ihre Identität? Gute Laune und historisches Bewußtsein - beides zusammen scheint in Deutschland nach wie vor nicht zu gehen. Mathias Bröckers

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