Feuriger Festauftakt der „Anti–Berliner“

■ Heißes Mai–Erwachen in Berlin–Kreuzberg / Brände, Barrikaden, Plünderungen

Der Berliner Senat wußte sofort Bescheid: Es war eine „Clique von Anti–Berlinern“, die ihm Freitagnacht in Kreuzberg die fröhlichen 750–Feierlichkeiten, die bisher weitgehend unter Ausschluß des „Volkes“ stattfanden, gehörig vermiest hat. Der Contra–Punkt aus dem Kiez kam so sicher wie das Amen in der Kirche. Er fiel so deutlich aus, wie seit Jahren nicht mehr.

Es ist 1 Uhr in Kreuzberg und am Görlitzer Bahnhof wird getrommelt. Dumpf hämmernd schlagen Pflastersteine im Takt gegen Glascontainer, gegen die Eisenstelzen des U–Bahnhofs, gegen den Schrott und Müll, den die Demonstranten auf dieser Straßenkreuzung aufgetürmt haben. Ein Trommelkonzert mit unzähligen Akteuren. Ein ausgebranntes Auto, Bauzäune und ein alter Küchenherd, zur Barrikade arrangiert, kokeln vor sich hin. Der zweite Glascontainer wird umgeworfen, Tausende Scherben und Flaschen prasseln gegen den Containerstahl. Dann rollt das grüne Ungetüm, seinen Inhalt lawinenartig umwälzend, über Kopfsteinpflaster auf die Barrikade zu. Der Höllenlärm der berstenden Flaschen törnt an. Die Fäuste fliegen nach oben als die Scherbenkugel mit finalem Getöse ankommt. Je lauter, krachender, durchdringender, schriller der Lärm, desto mehr Freude kommt auf. Ein Sound der Zerstörung, rhythmisch unterlegt von der Monotonie der hämmernden Steine. Bierkästen und Schnapspullen aus irgendeinem der geplünderten Läden werden mit glänzenden Augen zum brennenden Altar getragen. Drei, vier nur schemenhaft erkennbare Personen tanzen zu den Schlägen der Pflastersteine. Einzelne Stichflammen schießen aus der Brandstelle hoch und werden jubelnd begrüßt. Die Steine halten den Rhythmus, stundenlang. Ein Szenario der Extase. Berauscht von der eigenen Kraft und von dem kreisenden Flaschen feiern die Kämpfer ein Freudenfest, ungestört von der Polizei, angesoffen und happy. Nur wenige Schritte weiter wird der Görlitzer Bahnhof zerlegt, das Fahrkartenhäuschen brennt, auch aus dem Zeitungskiosk schlagen die Flammen. Ohne Halstuch, ohne Tarnung, ganz selbstverständlich und lustvoll zertrümmert ein Hüne mit einer Eisenstange den Fahrkartenautomaten. Die Alarmanlage fiebst vergeblich. Kein Polizist, den sie noch alamieren könnte. Längst sind alle Telefonhäuschen und Ampeln, unzählige Geschäfte kaputtgeschlagen. Eine nicht mehr zielgerichtete, sinnlose Zerstörung des eigenen Viertels? Und doch ist bei jedem Schlag, mit dem die Eisenstange auf den Automaten knallt, die ganze Wut der Demonstranten zu spüren. Die wachsende Deformation dieser Gesellschaft wird hier mit Eisenstangen bearbeitet. Es gibt kein Transparent, keine Parole und doch ist ALLES da: der grenzenlose Haß auf diese „ganze abgefuckte Scheiße“ mitten im aufgeputzten glatten Jubiläumsberlin. Die eskalierte Gegenwehr der Perspektiv– und Zukunftslosen. Überall lodern die Feuer, lie gen ausgebrannte Autos wie surreale Ausstellungsstücke mitten auf der Fahrbahn. Die Straßen sind übersät mit Scherben, Pflastersteinen und Bauschutt. „Verkehrsstörungen liegen uns nicht vor“, meldet der RIAS. Direkt gegenüber vom Görlitzer Bahnhof brennt der Supermarkt Bolle. Nicht lichterloh entflammt, sondern qualmend und stinkend vor sich hinschwelend, findet der Markt sein Ende. Einige Anwohner haben eine Leiter herangeschleppt und versuchen mit dem Gartenschlauch die Wand des angrenzenden Gebäudes zu nässen. Sinnlos und fast lächerlich plätschert das Rinnsal gegen die Hausmauer. „Macht doch was, macht doch endlich was, da brennt gleich ein ganzer Häuserblock ab“, bedrängt eine Anwohnerin die Männer der Feuerwache in der Wiener Straße . „Wir können nichts machen, die Polizei hat Kreuzberg aufgegeben“, resigniert der Brandmeister. Immer mehr wütende Anwohner belagern die Wache und suchen Hilfe bei den Uniformierten. Hilfe gegen „das Ungeziefer“, dem in dieser Nacht Kreuzberg gehört. Die starken Männer aus den Kneipen, die rechtschaffenen Familienväter und die betrunkenen, die haßerfüllten und die belustigten, die kopfschüttelnden und die Trotzdem–Fernseh–Gucker, die verschränkten Ellenbogen aus tausend Fenstern, die Notruf– Dauerwähler, die Neugierigen und die Blutrünstigen, sie alle warten jetzt auf den Gegenschlag der Polizei. Denn „so extrem, sowas, sowas habe ich noch nie erlebt, die können doch keinen ganzen Stadtteil dem Chaos überlassen.“ Doch die Polizei kommt nicht. Die Route für Randale–Touristen ist in dieser Nacht beliebig. Mariannenstraße, Oranienstraße, Manteuffelstraße, Lausitzerstraße, Wienerstraße, Skalitzerstraße, an jeder Ecke brennen Barrikaden, umfahren Polizei und Feuerwehr desorientiert aber hektisch und in respektvoller Distanz die Feuerstellen. Einige Anwohner haben in der Wiener Sraße ein Megaphon aufgetrieben und appellieren an die Vernunft: „Hört endlich auf und laßt die Feuerwehr durch.“ Hilflose Gesten von hilflosen Kiezbewohnern. Noch immer ist fast der ganze Kiez auf den Beinen. In sicherer Entfernung wird die Zerstörung staunend beäugt. Keiner weiß so richtig, wie es angefangen hat an diesem warmen 1. Mai–Nachmittag. Der Lausitzer Platz, der jetzt wie ausgestorben im Dunkeln liegt, war der Ausgangspunkt. Hier hatten am Nachmittag keine Barrikaden, sondern friedliche Holzkohlegrills gebrannt mit argentinischen Würstchen, Kottelets und Buletten beim traditionellen Straßenfest. Frühling, drei freie Tage, feucht–frühliche Stimmung. Irgendwann war ein Polizeifahrzeug umgestürzt. Es war dem Mai–Fest zu nahe gekommen. Bereitschaftsstaffeln rückten zur Verstärkung an. Sie wollten das Fest „auflösen“, Pflastersteine flogen gegen die „Wannen“, dann die ersten Tränengasgranaten in die Menge. Kurze Panik, der Tanz begann, Kreuzberg erlebte „eine der schwersten Straßenschlachten der Nachkriegszeit“ (dpa). Am Samstag morgen ist die Staatsmacht, diesmal in Form von orange–uniformierten Stadtreinigern, schon früh unterwegs, Scherben, Steine, noch kokelnde Barrikaden und bis zur Unkenntlichkeit um Straßenlaternen gewickelte Fahrräder wegzuräumen. Der Asphalt ist an vielen Stellen von den Bränden völlig aufgelöst, ein Autobesitzer erkennt fassungslos von seinem Fahrzeug nur noch das Nummernschild wieder, ein anderer fegt die Scherben von den Polstern und hofft auf die richtige Kasko–Versicherung. Die abgebrannte und inzwischen in sich zusammengestürzte Bolle–Fileale ist den ganzen Sonntag über Ausflugsziel für Amateur– und Berufsfotografen, Reisebusse und Besucher aus anderen Stadtteilen. Überall stehen kleine Grüppchen und diskutieren, stapfen über den „Kämpfer“ der letzten Nacht hinweg, der mitten im Getümmel auf dem Bürgersteig seinen Rausch ausschläft. Manfred Kriener