I N T E R V I E W „Ohne sozialen Druck läuft in Guatemala nichts“

■ Der guatemaltekische Staatspräsident Vinicio Cerezo fühlt sich trotz der wachsenden Schwierigkeiten „recht wohl“ / „Die Lage ist entspannt“ / Schwierigkeiten nur wegen der „Ungeduld“ der Bevölkerung?

taz: Herr Präsident, wie fühlen Sie sich angesichts der wachsenden Spannungen im Land? Cerezo: Ich fühle mich recht wohl. Die Lage im Land ist recht entspannt. Es ist natürlich nicht immer leicht, einen Weg zwischen den einzelnen widerstreitenden Interessen zu finden. Zum Beispiel gefällt die Landübergabe an die Bewegung des Padre Giron auch den kleinen Grundbesitzern nicht, aber wir mußten dies trotzdem tun, um die Hoffnungen der Campesinos aufrechtzuerhalten und zu vermeiden, daß die Haltung der Bauern zu einer Explosion führt. Reagieren Sie also hauptsächlich auf den Druck, der von außen an Sie herangetragen wird? Meine Arbeitsweise besteht darin, daß ich mir Ziele setze und die Zeit programmiere, um sie zu erfüllen. Natürlich fangen dann die Leute an, ungeduldig zu werden, denn es ist eine Ungeduld, die sich seit 30 Jahren akkumuliert hat. Mein Zeitbegriff ist nicht der gleiche, den die Campesinos haben, wenn sie auf dem Hauptplatz frieren. Im Falle der Bauern handelt es sich um ein Jahrzehnte altes Problem. Warum sprechen Sie zu ihnen nicht direkt von einer Agrarreform? Das werde ich nicht tun. Es gehört zu meiner Politik, alle jene Worte aus meinem Vokabular zu streichen, die Polarisierungen und Zusammenstöße hervorrufen könnten. Ich glaube, daß Tatsachen besser als Worte sind: Unsere Projekte, die wir entwickelt haben, werden mehr als einer halben Million Bauern zugute kommen, denen wir private oder staatliche Ländereien zur gemeinsamen Nutzung übergeben werden. Aber das will doch auch die Bewegung des Padre Giron. Haben Sie mit dem vielleicht eine taktische Allianz, wie das viele Leute behaupten? (lachend) Nein, wir sind nicht so raffiniert. Aber wir stimmen in unseren Endzielen überein. Giron hat verstanden, daß in Guatemala ohne sozialen Druck nichts läuft und schafft damit die Bedingungen, unter denen der Präsident die Entscheidungen fällen kann. Der Rhythmus der Entscheidungen hängt allerdings vom Präsidenten ab, der die Fähigkeit und die Möglichkeit hat, den demokratischen Prozeß zu konsolidieren. Aber Sie wissen, daß die sozialen Prozesse nicht immer mit den Plänen übereinstimmen. Im Fall des Streiks der Staatsangestellten haben Sie entschieden, hart zu bleiben? Ich bin nicht hart. Was wie Härte erscheint, ist in Wirklichkeit die Suche nach einer ausgewogenen Haltung: Wir heben die Gehälter im Rhythmus unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an. Im Vorjahr mußten wir uns die notwendigen finanziellen Mittel beschaffen, um dieses Jahr der sozialen Problematik begegnen zu können. Nächstes Jahr werden wir Ansprüche in der Gesellschaft wieder einschränken, um das Finanzproblem zu lösen. Denn wir wollen soziale Reformen für alle herbeiführen und nicht nur für die relativ privilegierten Staatsangestellten, die in Guatemala ohnedies zu den Privilegierten zählen, weil sie einen festen und relativ gut bezahlten Arbeitsplatz haben. Mein Argument begünstigt also die, die nichts haben. Das Gespräch führte Leo Gabriel