Leben - nur ein Rechtsgut des Staates?

■ Ein Lebenslänglicher fordert das Recht auf Freitod / Klage vor der Europäischen Menschenrechtskommission?

Von H. Barth/R. Herding

Mannheim - Der Gefangene beantragte die „Genehmigung zum Bezug eines toxischen Präparates meiner Wahl in letaler Dosis“. Zu Deutsch: Tödliches Gift für den Selbstmord. Das war am 25. Oktober 1985. Günther Adler, 1982 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, gab folgende Begründung für seinen Antrag: Es sei unzulässig, erstens, ihn zur Fortsetzung eines sinnlosen und als Psychofolter empfundenen Lebens zu zwingen, und zweitens, ihn zu einem Freitod in menschenunwürdiger Weise, nämlich durch „gefängnisübliches“ Erhängen zu zwingen. Antwort des Justizministers: „Nach dem Staatsverständnis und dem Menschenbild des Grundgesetzes darf sich die Strafvollzugsbehörde in keinem Falle anmaßen, an dem Vorhaben - in welcher Form auch immer - teilzunehmen.“ Ich treffe Günther Adler im Besucherraum der Vollzugsanstalt Mannheim. Er ist nicht der Rebell, den ich erwartet hatte - im Gegenteil: klein, unscheinbar, und er spricht so leise, daß ich ihn kaum verstehen kann im allgemeinen Lärm der anderen Besucher. Ich blättere durch die vielen sauber getippten Schreibmaschi nenseiten, die mir der Gefangene mitgebracht hat: „Lebenslange Freiheitsstrafe bedeutet ein Leben ohne absehbares Ende in ständiger Unterdrückung; bedeutet ein Leben in fortschreitender sozialer, psychischer und physischer Verkümmerung; bedeutet ein lebenslanges Sterben in kleinen Schritten. Lebenslange Freiheitsstrafe ist menschenunwürdiger als der Tod.“ Auch dem Bundesverfassungsgericht gilt das „Lebenslänglich“ nur dann für vereinbar mit der Menschenwürde, wenn den Verurteilten eine Chance bleibt, wieder in die Freiheit zu kommen; wenn ein sinnvoller Behandlungs– (nicht bloß Verwahr–) vollzug den schädlichen Wirkungen des Freiheitsentzugs entgegenwirkt. Aber die Realität sieht bekanntlich anders aus. Damit setzen sich die Gerichte nicht auseinander, wenn sie den Antrag des Mannes auf sein tödliches Gift ablehnen. Wie unmenschlich der Alltag sein mag - an Selbstmord mag der Sozialstaat keinen Anteil haben. „Das Leben jedes einzelnen Menschen gehört zu den höchsten Rechtsgütern. Die Pflicht des Staates, es zu schützen, ergibt sich aus dem Grundgesetz.“ Die Kritik des Gefangenen am Strafvollzug bleibt unerhört und wirkungslos, weil er die Konsequenz seiner Kritik - lieber sterben als die Haft ertragen - zum Antragsgegenstand gemacht hat. Jüngster Stand: Das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde nicht an: „Keine Aussicht auf Erfolg“. Jetzt will er vor die Europäische Menschenrechtskommission als letzte Instanz. Wir reden über Anträge, Papiere, nicht über seine Lebensgeschichte. Nach einer Stunde unterbricht uns ein Vollzugsbeamter. Während mein Gesprächspartner hinter einer Eisentür verschwindet, rätsele ich, was ihm wohl wichtiger ist: sein Leben zu beenden - oder seiner überzeugenden Kritik an der Unmenschlichkeit des Vollzugs Geltung zu verschaffen. Ich kann mich in ein Leben in lebenslanger Haft einfach nicht richtig hineinversetzen. Abstumpfen, Dahinsiechen, Hoffen auf Strafaussetzung nach 15 Jahren ... Ihn plagt die Angst, so zu resignieren wie viele seiner Mitgefangenen. Spielt es eine Rolle zu erfahren, wer dieser Mann ist und für welches Vergehen er sein Urteil bekam? Ich habe noch immer Schwierigkeiten zu glauben, daß es sich um denselben Mann handelt: Er, der mir gegenübersaß, ganz sachlich und emotionslos von seiner Verfassungsbeschwerde sprach - und jener, dessen Tat Ende 1980 die Öffentlichkeit schockierte. Es ist Günther Adler, 53, Diplomvolkswirt und Vater von fünf Kindern. Er entführte und tötete ein elfjähriges Mädchen. Die Vollzugsbehörde drohte ihm jetzt, ihn wegen Suizidgefahr in eine Gemeinschaftszelle zu verlegen. Anlaß für Adler, dem Anstaltspsychologen zu versichern, daß keine Suizidgefahr bestehe. An den Anstaltsleiter schrieb er: „Wenn man hoffen will, die Absurdität und die zerstörerischen Wirkungen des Strafvollzugs transparent zu machen, so muß man leben.“ Leute aus den alternativen Knastgruppen, die sich mit Günther Adlers Forderung befaßt haben, verteidigen sein Recht auf Freitod. „Aber daß der Sozialstaat die Mittel zur Verfügung stellen soll - damit hab ich Schwierigkeiten. Wenn man es unterließe, ihn hermetisch abzuschließen, so daß er wenigstens diese Entscheidung treffen könnte wie ein freier Mensch!“, sagt eine von ihnen. Das erinnert mich an eine Stelle bei dem Freitod–Denker und -Täter Jean Amery: „Was alle Freitodvorhaben, solche, die zum Ende gelangten, gleich denen, wo man den Abtretenden zurückrief, begrifflich einigt, ist nicht der Hilferuf, sondern die Botschaft.“