Die Altlasten von morgen

Der frühere hessische Umweltminister Joschka Fischer hatte mit seiner heftig umstrittenen Giftmüll–Politik zumindest eines erreicht: das Thema zum Thema gemacht. Dabei ist der Giftmüll (neudeutsch: Sondermüll) kein hessisches Problem, andere Bundesländer machen es sich nur leichter. Das belegen die Zahlen eines im Auftrag des Umweltbundesamtes fertiggestellten Gutachtens der Firma „Inplus“. Sie hat die Sonderabfallbegleitscheine des Jahres 1983 untersucht und damit erstmals ein umfassendes Zahlenwerk vorgelegt, das die bundesweite Dramatik beschreibt. Die Bundesregierung, der die Studie seit Dezember 1985 vorliegt, hat dieses Zahlenwerk nie veröffentlicht. 4,87 Millionen Tonnen Sondermüll der verschiedensten Giftklassen fielen demnach im Jahre 1983 an, allerdings nur im überwachten Bereich. Unklar bleibt die Beseitigung in betriebseigenen Anlagen, denn diese werden nicht von dem Begleitscheinsystem erfaßt. Da fast alle chemischen Großbetriebe (BASF, Bayer, Höchst usw.) über eigene Anlagen verfügen, bleibt dieser wichtige Bereich von der öffentlichen Überwachung weitgehend befreit. So verkokelt die BASF in Ludwigshafen fast 100.000 Tonnen hochgiftigen Sonderabfall in ihren Verbrennungsanlagen, die noch nicht einmal über Rauchgasreinigungsanlagen nach dem Stand der Technik verfügen. Trotz dieser Lücken fällt der überwiegende Teil der erfaßten Sonderabfälle (58,8 aus chemischen Produktionsanlagen an, wodurch klar wird, daß die chemische Industrie der größte Verursacher ist. Folglich müssen Vermeidungsstrategien in erster Linie hier ansetzen. Die größten Giftproduzenten befinden sich im Land Nordrhein– Westfalen: 49 Prozent sämtlicher Sonderabfälle kamen aus dem „Johannes–Land“. Allein die Stadt Leverkusen, Standort des Bayer–Konzerns, produzierte 680.000 Tonnen Abfallgifte. Zum Vergleich: Berlin hatte 1983 ein Sonderabfallaufkommen von 50.000 Tonnen. An zweiter Stelle der Länder lag Niedersachsen mit 12,2 Prozent, es folgten Hamburg (10.3 ). Hessen fiel mit mageren drei Prozent 1983 gar nicht weiter auf. Ebenso wie andere Länder schickt auch der Haupt–Giftproduzent Nordrhein–Westfalen einen Großteil seiner Giftabfälle ins Ausland. Mehr als ein Drittel der nordrhein–westfälischen Gifte gingen in den Export, insgesamt etwa 900.000 Tonnen. Hamburg exportierte im Verhältnis zum Aufkommen das meiste ins Ausland, nämlich fast zwei Drittel. Heute ist der Anteil noch größer. Hessen fiel 1983 beim Giftexport nicht weiter ins Gewicht (ca. 30 Tonnen). Dies änderte sich jedoch seit Mitte 1985, weil zu diesem Zeitpunkt die wichtigste Deponie des Landes geschlossen wurde. Als erstes Ziel der Abfälle rangierte noch vor der Deponie Schönberg (DDR) das Land Belgien. Dort werden die Abfälle auf hoher See verbrannt unter Bedingungen, die von Umweltorganisa einschließlich Hausmüll): - Hamburg435.000 Tonnen - Schleswig–Holstein 166.000 Tonnen - Baden–Württemberg 87.000 Tonnen - Nordrhein–Westfalen 34.000 Tonnen - Bremen 31.000 Tonnen - Hessen 15.000 Tonnen (1986 ca. 40.000 Tonnen). Insgesamt wurde mehr als ein Viertel (26,8 Abfälle ins Ausland transportiert. Doch die Studie deckt noch mehr Mißstände auf: „Insgesamt ist nur bei der Hälfte der beseitigten Abfallmengen genau bekannt, um welche Beseitigungsanlagen es sich jeweils handelt.“ Als „unbefriedigend“ werten sie den Umstand, daß bei rund einem Viertel aller Abfälle nicht einmal die Art der Beseitigung bekannt ist. Unter den bekannten Beseitigungsanlagen wiederum befindet sich nur ein kleiner Teil, der als eingeschränkt umweltgerecht betrachtet werden kann (Untertagedeponie, Sonderabfallverbrennung, Sonderabfalldeponie) - insgesamt noch nicht einmal ein Viertel (22 Viertel aller Abfälle werden definitiv unsicher entsorgt (Ausland, Hausmülldeponie, Verklappung, Entsorgungsort unbekannt). Hinzu kommen die Mengen, die von der Nachweispflicht des Abfallgesetzes ohnehin ausgenommen sind und deshalb ebenfalls mit dem Hausmüll beseitigt werden. Fazit des Gutachtens: In der BRD wird ein Mehrfaches derjenigen Menge an Giftmüll produziert, die ohne größere Umweltschäden verkraftet werden kann. Da die Mengen weiter steigen, wächst der Problemdruck. Sollten diese giftigen Sonderabfallmengen nicht die Altlasten von morgen sein und den Nachbarn überlassen werden, wächst die Notwendigkeit der Vermeidung. S. Klinski / T. Schwilling