Die „Mauer“ erscheint im Neuen Deutschland

■ „Eines Tages ist die Mauer nicht mehr da“ / Abdruck der Äußerung des DDR–Schriftstellers Stephan Hermlin über die „Mauer“ im SED–Zentralorgan Neues Deutschland läßt Ostler und Westler aufhorchen / Der „antifaschistische Schutzwall“ heißt jetzt „das Bauwerk“

Berlin (lbn/taz) - „Eines Tages werde die Mauer nicht mehr da sein“ - so hat das Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, am Donnerstag den DDR–Schriftsteller Stephan Hermlin im Rahmen eines Berichts über ein „Schriftstellergespräch“ mit Autoren aus Ost und West zitiert und damit die Mauer zum ersten Mal beim Namen genannt. Hermlin habe sich, so Neues Deutschland (ND), mit der „Mauer“ auseinandergesetzt und sich dabei auf Erich Honecker bezogen. Der Staatsratsvorsitzende habe sich vor län gerer Zeit ebenso geäußert. Voraussetzung für den „Wegfall des Bauwerks“ sei „das gesicherte Weiterbestehen zweier deutscher Staaten“, zitiert das Zentralorgan den Schriftsteller weiter. Der Abdruck des in der DDR bisher als „antifaschistischer Schutzwall“ oder als „Staatsgrenze“ umschriebenen Wortes wird von vielen Beobachtern als sensationell empfunden. Es ist allgemein bekannt, daß ND–Redakteure kaum eine derart brisante Wortwahl ohne Zustimmung von oben ins Blatt setzen. So dürften die Interpretationen über die Absichten der SED–Führung ins Kraut schießen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sprach Hermlin am Donnerstag der gegenwärtigen Reformpolitik der Sowjetunion die gleiche Bedeutung zu wie der Oktoberrevolution von 1917. „Diese neue Revolution“ sei zwar noch nicht ganz sichtbar geworden, „aber sie wird ihre Folgen haben“. Die Einflüsse dieser Umwälzung werden sich in allen sozialistischen Ländern bemerkbar machen, erklärte er. „Draußen bleiben“ könne man da nicht, dies wäre auch gegen die Interessen der DDR. In seinem Land sei zwar das Klima immer noch geprägt von einem ungedämpften „Hang zum Selbstlob“, der ihm und anderen nicht gefalle. Kritik und Selbstkritik seien integrale Bestandteile der revolutionären Theorie. „Das gehört zum Sozialismus wie das Atmen zum Leben.“ In der DDR gebe es zwar keine „Halden von ungedruckten Büchern“ wie in der Sowjetunion, wo es noch viel nachzuholen gebe, doch sollten Werke, die bisher nur im Westen erschienen wie die Bücher von Monika Maron (“Die Überläuferin“, „Flugasche“), in der DDR publiziert werden. Hermann Kant, der Präsident des DDR–Schriftstellerverbandes, stimmte dieser Auffassung Hermlins am Rande des Schriftstellertreffens zu. Zu fragen bleibt, warum dann viele der DDR–Autoren wie Marita Manon nicht an dem Treffen teilnehmen konnten. Im Ost–Berliner Palasthotel hatten sich bis gestern über 30 Autoren aus mehr als 20 Staaten sowie rund 30 Schriftsteller aus der DDR aus Anlaß der 750–Jahr– Feier versammelt und vor allem über die Reformbestrebungen in der Sowjetunion diskutiert. Die bundesdeutsche Literatur war mit Bernt Engelmann, Max von der Grün, Walter Höllerer, Rolf Hochhuth, Luise Rinser und Franz–Joseph Degenhard vertreten.