Schuldspruch in Sachen AIDS

■ Zwei Jahre Haft wegen versuchter Körperverletzung für AIDS–infizierte Prostituierte, die trotz Berufsverbot weiterarbeitete / Anklage wegen schwerer Körperverletzung wurde von Gericht nicht zugelassen

Aus München Luitgard Koch

Zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wegen versuchter Körperverletzung und Verstoß gegen das Bundesseuchengesetz wurde die Prostituierte Sonja S. am vergangenen Donnerstag vom Münchner Amtsrichter Normando Doukhoff verurteilt. Die 23jährige erhielt bereits im November 85 Berufsverbot, nachdem ihr AIDS–Test beim Münchner Gesundheitsamt positiv ausfiel. Trotz dieses Berufsverbots arbeitete sie, nach Aussagen ihrer „Kunden“ auch ohne Kondom, weiter als Prostituierte. Keiner ihrer Freier wurde jedoch infiziert. Vor ihrer Verhaftung im Februar dieses Jahres in Frankfurt war sie wie eine Verbrecherin steckbrieflich gejagt worden. „Die Angeklagte ist in hohem Maße gefährlich“, erklärte Staatsanwalt Albert Dummler und forderte eine Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Bereits zu Beginn des Prozeßes hatte die Staatsanwaltschaft Anklage auf schwere Körperverletzung erhoben. Dies wurde jedoch vom Gericht nicht anerkannt. Die Aussagen der „Freier“, die zum Teil aus dem Zuhältermilieu kamen und behaupteten, Sonja S. habe ohne Kondom gearbeitet, bezeichnete Staatsanwalt Dummler als glaubwürdig. Im Gegensatz zur Angeklagten gäbe es für sie keinen Grund zu lügen. Einem der Zeugen konnte jedoch eine Falschaussage nachgewiesen werden. Er behauptete, mit Sonja S. Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, obwohl sie zu dem Zeitpunkt wegen verbotener Prostitution - sie war im Sperrbezirk von der Polizei aufgegriffen worden - in der JVA Neudeck saß. Sonja S. gab an, nur bei einem alten Stammkunden kein Kondom benutzt zu haben. Bei der Vernehmung zur Person schloß der Richter die Öffentlichkeit, ausgenommen die Presse, mit Rücksicht auf die Angeklagte aus. Die zahlreichen Journalisten wurden jedoch hinsichtlich dessen, was der Vater, ein Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter, Sonja S. angetan hatte, zur Geheimhaltung verpflichtet. „Die Angeklagte hat überhaupt nie die Chance gehabt, ein normales Leben zu führen, wie hätte aus ihr ein verantwortungsvoller Mensch werden sollen“, verwies die Verteidigerin Elisabeth Hausmann in ihrem Plädoyer auf die zerrütteten Familienverhältnisse und traumatischen Kindheitserlebnisse von Sonja S. Sie beantragte für ihre Mandantin eine Freiheitsstrafe nicht über ei nem Jahr. Halbverhungert und verwahrlost war Sonja schon als Säugling in ein Heim gekommen. Auch als sie wieder zuhause lebte, wurde sie von Vater und Mutter mißhandelt. Ihre Heimaufenthalte - die Mutter wollte sie am liebsten bis zur Volljährigkeit im Münchner Nervenkrankenhaus Haar verwahrt wissen - füllen fünf Bögen des Jugendamtsberichts. Immer wieder riß sie aus und unternahm Selbstmordversuche. Weil sie zu selten am Unterricht teilnahm - wegen ihrer Striemen durfte sie oft nicht zur Schule -, flog sie bereits nach der sechsten Klasse von der Sonderschule. Mit elf Jahren ging sie zum ersten Mal auf den Strich und begann zu trinken. „Sonja hat sich zum Außenseiter der Familie und der Gesellschaft gemacht“, so der Bericht des Augsburger Sozialberatungsdienstes über die 12jährige. Als die „schönste Zeit in ihrem Leben“ bezeichnete die 23jährige ihren Aufenthalt in Frankreich. Dort lebte sie mit einem älteren Mann zusammen, von dem sie ein Kind bekam. Das zwei Monate alte Baby und ihr Lebensgefährte starben bei einem Unfall. Danach kehrte sie nach Deutschland zurück und ging „wieder anschaffen“. „Heute weiß jeder über die Ansteckungsgefahr bei Prostituierten Bescheid, wer darüber hinwegsieht, handelt auf eigenes Risiko“, zitierte die Anwältin in ihrem Plädoyer Bundesanwalt Bruns. Und auch der Richter bezeichnete diese Aussage „als durchaus zutreffend“ und bestätigte den Freiern ein „gerüttelt Maß an Selbstgefährdung“. Unterschiedlich wurden von Anklage, Verteidigung und Staatsanwaltschaft die Aussagen zur Ansteckungsgefahr des geladenen AIDS–Experten Prof. Friedrich Deinhard vom Max–Pettenkofer Institut an der Münchner Uni interpretiert. Beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem HIV–Positiven bestehe zwar grundsätzlich die Gefahr der Ansteckung, die Häufigkeit und ob dies bereits beim einmaligen Geschlechtsverkehr passieren könne, sei aber unbekannt. Für den Staatsanwalt war damit klar: Es war nur eine Frage des Zufalls, daß sich die Freier nicht ansteckten. Die Verteidigerin dagegen: Es wäre ein Zufall gewesen, wenn eine Ansteckung stattgefunden hätte. Richter Doukhoff bezeichnete das Verfahren als einen Fall, der die Strafjustiz in die vorderste Front der gesellschaftlichen Entwicklung geführt habe und daß es nicht Aufgabe der Justiz sei, Politik zu betreiben.