Von einer Ausrede zur nächsten

■ Auch in der gestrigen Regierungserklärung zur Abrüstung blieb der Kanzler sich treu / Eine Entscheidung zur Doppel–Null–Lösung steht weiterhin aus / Fronten zwischen FDP und Union sind unverändert

„Widersprüchlich und inkonsequent“ nannte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS gestern zu Recht die Regierungserklärung Kanzler Kohls. Zum einen begrüße er die Vorschläge der UdSSR, zum andern unterstreiche er die Notwendigkeit von Atomwaffen. Eine Antwort sei er schuldig geblieben. Nach der Bundestagsdebatte stimmten dann nicht einmal alle Koalitionsabgeordneten für die schließlich verabschiedete vage Entschließung, Gorbatschows Angebot ernsthaft zu prüfen.

Bonn (taz) -Als Kanzler Kohl gestern im Bundestag ans Rednerpult trat, um die Position der Bundesregierung zur „doppelten Null–Lösung“ vorzutragen, spitzten alle die Ohren. Der Kanzler blieb sich treu: Er redete weitschweifig und allgemein über die erfolgreiche Politik der Bundesregierung, tat so, als sei der Vertrag bereits unterschrieben, verteilte genüßlich Prügel an die Sozialdemokraten für ihre nachträgliche Ablehnung des von Helmut Schmidt eingefädelten NATO– Doppelbeschlusses, um dann mit dem denkwürdigen Satz „Ich habe die Hoffnung, daß wir allen Grund zum Optimismus haben“ endlich zum Thema überzuleiten. Doch wer meinte, an diesem Morgen die Haltung der Bundesregierung zur Null–Lösung bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite zu erfahren, sah sich getäuscht. Kohl gab seiner Regierungserklärung den Titel „Zwischenbericht“ und rühmte sich, daß trotz zahlreicher Besprechungen unter seiner Leitung noch immer kein Ergebnis herausgekommen ist. Und wie schon vor über einer Woche war es der noch nicht schriftlich vorliegende sowjetische Vertragsentwurf für die Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite, der als Erklärung für den Aufschub der Entscheidung herhalten mußte: Aufgrund „bloßer mündlicher Erläuterungen“ könne die Bundesregierung keine „rüstungspolitischen Grundsatzentscheidungen“ treffen. Kohl wiederholte schließlich das, was er schon in seiner Regierungserklärung im März erzählt hatte: Die Bundesregierung erwarte, daß die beiden Weltmächte auch über Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite verhandelten, mit dem Ziel, „alle diese Systeme auf ein niedriges Niveau mit gleichen Obergrenzen zu reduzieren“. Freilich kann diese karge Passage auch als wohlklingende Ablehnung einer erweiterten Null–Lösung integriert werden, und der SPD–Politiker Egon Bahr warf Kohl später zurecht vor, „Nachrüstungabsichten“ durch die Formulierung „gleiche Obergrenzen“ zu „tarnen“. Die CDU–Politiker Alfred Dregger und Volker Rühe bezogen dagegen sehr eindeutig Position: Geschlossen zog der rechte und gemäßigte CDU–Flügel gegen die „erweiterte Null–Lösung“ ins Feld. Bei einer Null–Lösung bei Raketen kürzerer Reichweite blieben noch immer „alle Panzerarmeen“ und alle Kurzstreckenwaffen unter 500 km Reichweite. Schon heute aber existierten in der NATO „Erwägungen“, die „Lücken, die durch die doppelte Null– Lösung über 500 km Reichweite entstehen, durch Aufstockung der atomaren Waffen auf deutschem Boden mit Reichweiten unter 500 km Reichweite zu schließen“. Damit aber blieben nur noch Atomraketen, die „auf Deutsche“ zielten, denn laut Dregger gilt: „Je kürzer die Reichweite, desto deutscher die Zerstörung“. Der FPD–Vorsitzende Mischnik bezeichnete dagegen die „erweiterte Null–Lösung“ als „wünschenswert“. Der Außenminister selbst allerdings hielt sich mit klaren Äußerungen zurück. Lang und breit erläuterte Genscher, wo über welche Waffen mit welchem Ziel und mit welchen Fortschritten geredet werde, um dann die Frage der Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite mit dem Satz abzuhandeln, dieser Vorschlag Gorbatschows bedürfe „der verantwortungsvollen und sorgfältigen Prüfung“. Falls die FDP angesichts des geschlossenen Widerstands der Unionsparteien bald wieder umfallen sollte, kann sich Genscher bequem auf diese Sätzchen zurückziehen. Hier könnte der Atomrakete Pershing Ia bald eine entscheidende Rolle zukommen. Die Trägerraketen für diese Rakete gehören der Bundesluftwaffe, die Atomsprengköpfe den USA. Die UdSSR hat Ende April gefordert, die Sprengköpfe für die Pershing Ia in die Verhandlungen einzubeziehen, ist damit jedoch in den USA wie in der Union auf Ablehnung gestoßen. Auch Genscher, so heißt es, sei nicht dafür. Und der FDP–Abgeordnete Mischnik deutete gestern vage an, daß es hier noch einen „Klärungsbedarf“ gebe: Die Frage, ob die Pershing Ia in der Bundesrepublik bleiben könne, sei gerade für Frankreich und Großbritannien von entscheidender Bedeutung, da sie sich gegen die Einbeziehung von „Dritt– Staaten–Systemen“, ihrer Atomraketen also, weigerten. Hier scheint sich eine Kompromißlinie zwischen FDP und den Unionsparteien anzudeuten. Unter der Hand allerdings erhält diese Debatte eine merkwürdige Wendung: Bundeskanzler Kohl bezeichnete gestern die Pershing Ia–Raketen ebenfalls als „Drittstaatensysteme“. In Genf werde allerdings nur über sowjetische und amerikanische Systeme verhandelt. Der SPD–Politiker Egon Bahr sagte, es müsse auch weiterhin „Klarheit über den nichtnuklearen Status der Bundesrepublik“ herrschen. Die Bundesrepublik habe 1955 auf die Herstellung, den Besitz, die Verfügung und die Lagerung eigener Atomwaffen verzichtet. Es sei „eine Irreführung der öffentlichen Meinung, die Pershing Ia als Drittstaatensysteme zu bezeichnen“. Egon Bahr warnte „vor einem Zwielicht, das nur den Verdacht auf einen deutschen atomaren Ehrgeiz wecken könnte“. Süffisant kommentierte der SPD–Politiker Vogel das Mißtrauen in den Reihen der Union gegenüber dem, was in der deutschen Politik beschwörerisch „atomarer Schutzschirm“ heißt. Wo bleibe denn jetzt die Freundschaft zum amerikanischen Präsidenten, fragte Vogel den Bundeskanzler? Otto Schily sprach für die Grünen von einer „Fixierung reaktionärer Kräfte auf militarisiertes Denken“, wenn jetzt, wie am Dienstag in der CDU–Fraktion geschehen, sogar der Versuch unternommen werde, ein neues „Junktim“ zwischen Abrüstung und Wiedervereinigung herzustellen. „Wollen Sie ernsthaft Massenvernichtungsmittel als Druckpotential einsetzen?“, fragte Schily die Unionsabgeordneten und geriet fast außer sich, als einer nickte: „Da nicken Sie, das finde ich interessant, welcher Großmachtwahn ihn ihren Köpfen spuckt.“ Ursel Sieber