Die Sektion der Lehrerin

■ Nach vier Festspieltagen in Cannes eine Inflation von Bildern / Ein Bild aus Kieslowskys „Der Zufall“ bleibt

Das Festival geht in den vierten Tag. Mehr als ein Dutzend Filme habe ich inzwischen gesehen. Wenn jeder davon 90 Minuten hat, macht das mindestens 5.400 Sekunden pro Film, also gut und gerne 130.000 Bilder. Wieviele davon kann man in Erinnerung behalten? Das Licht ist eher nüchtern, gelblich–grau. Man sieht eine Gruppe junger Leute, Männer und Frauen, in weißen Kitteln. Sie bilden einen Kreis. Man sieht nur ihre Oberkörper und Gesichter (sie machen einen konzentrierten Eindruck), und man hört ein Geräusch wie von zerreißendem Stoff. Dann erst zeigt die Kamera, was es damit auf sich hat: Eine Leiche wird aufgeschnitten - die Szene spielt in der Pathologie einer Universitätsklinik. Es handelt sich um den Körper einer dicken, alten Frau. Zwischen den Brüsten setzt der Schnitt an und wird langsam - manchmal nachsetzend, wenn die Fettschicht sich nicht mit einem Mal teilen will - nach unten geführt. Es ist sichtlich kein geschminkter Kadaver, der da seziert wird, er ist echt, das Bild ist dokumentarisch und die Kamera zeigt es wie in einem Lehrfilm, beiläufig. Eine Studentin wendet sich ab. Ob es ihr nicht gutgehe, fragt ein Kommilitone. Sie hat in der Toten ihre ehemalige, einst verhaßte, Lehrerin wiedererkannt und fürchtet, ihr dies Ende gewünscht zu haben. Das ist also eins der wenigen gültigen Bilder, die ich auf diesem Festival, das auch außerhalb der Kino–Säle von Bildern birst, gesehen habe. Es stammt aus Trzytadek (Der Zufall) von Krzysztos Kieslowsky, der, obwohl bereits 1981 gedreht, erst jetzt von der polnischen Zensur freigegeben wurde. Ein engagierter Film, er stellt die Sinnfrage: ein Medizinstudent weiß nicht, ob er sich auf die Seite der Partei oder des katholischen Untergrunds schlagen soll. Das Ende ist folgerichtig: er kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Thierry Chervel