Historischer Prozeß oder Spektakel ?

■ Heute beginnt der Prozeß gegen Klaus Barbie / Ein Bericht von Lothar Baier

Im strengbewachten Justizpalast wird hinter einer Glasscheibe heute der „Schlächter von Lyon“, der ehemalige Gestapo–Chef Klaus Barbie, Platz nehmen. 23.000 Seiten umfassen die Ermittlungsakten, der Prozeß ist auf acht Wochen angesetzt. Nicht wegen seiner Kriegsverbrechen ist Klaus Barbie angeklagt, sondern nur wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Wenn Klaus Barbie, der ehemalige Chef der Gestapo von Lyon, heute vor dem Schwurgericht Lyon erscheint, wird eine strafrechtliche Premiere und zugleich eine Derniere eröffnet. Derniere deshalb, weil aller Voraussicht nach zum letzten Mal ein historischer Nazi sich vor einem französischen Gericht verantworten muß. Eine Premiere, weil bei dem Prozeß in Lyon zum ersten Mal ein Gesetz angewendet wird, das aus dem Rahmen des gewöhnlichen Strafrechts fällt: das Gesetz über „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das, 1964 vom Pariser Parlament beschlossen, im Unterschied zu allen anderen Strafgesetzen keine Verjährung vorsieht und außerdem rückwirkende Geltung hat. Aufgrund dieses Gesetzes können Naziverbrechen, die vor 1945 begangen wurden und als Kriegsverbrechen oder als Mordtaten längst verjährt waren, weiterhin verfolgt werden. Die jetzt in Lyon formulierte Anklage weicht erheblich von den Beschuldigungen ab, aufgrund derer Barbie im Februar 1983, nach seiner Abschiebung aus dem Zufluchtsland Bolivien, in Untersuchungshaft genommen wurde. Keine Sühne für den Tod von Jean Moulin Die Schwierigkeiten, mehr als 40 Jahre nach den Ereignissen noch erinnerungsfähige Zeugen und stichhaltige Beweise zu finden, hat dabei nicht allein den Ausschlag gegeben. Aus dem Justizfall Barbie ist in Frankreich vor allem deshalb die publizistisch hochgespielte „Affäre Barbie“ geworden, weil sich herausgestellt hat, daß zwischen dem, wofür der Name Barbie mit seinem Zusatznamen „Schlächter von Lyon“ steht, und dem, was ihm heute vor Gericht noch vorgehalten werden kann, ein Abgrund klafft. Endlich hatte man den exemplarischen Nazitäter erwischt, der Anfang der fünfziger Jahre, als er in Lyon zweimal zum Tod verurteilt wurde, sicher in seinem südamerikanischen Versteck saß, und nun mußte sich die französische Öffentlichkeit darüber belehren lassen, daß die damals verhandelten, an Resistancekämpfern und Zivilisten begangenen Verbrechen Klaus Barbies ungesühnt bleiben müssen. Laut Recht und Gesetz kann ein Angeklagter nicht zweimal wegen der gleichen Taten verurteilt werden. Die Tat, der Barbie in allererster Linie seinen sinistren Ruf verdankt, die Festnahme und grausame Ermordung des Resistancehelden Jean Moulin, findet in Lyon kein gerichtliches Nachspiel. Das Symbol namens Barbie ist nicht mit dem Angeklagten Barbie identisch. Der Folterer Moulins und zahlloser anderer Resistancemitglieder wird keinem Richter mehr Rede und Antwort stehen müssen. Daß der heute 75jährige Barbie überhaupt vor Gericht gebracht werden konnte und nicht wie so viele untergetauchte Naziverbrecher in seinem Zufluchtsland unbehelligt seinem Lebensabend entgegensieht, ist den Aktionen des Pariser Anwalts Serge Klarsfeld und seiner Frau Beate Klarsfeld zu verdanken. Die Klarsfelds hatten Barbie Anfang der siebziger Jahre in La Paz aufgespürt und keine Ruhe gegeben, bis der ehemalige Gestapochef von Lyon in einer politisch günstigen Situation aus Bolivien nach Frankreich abgeschoben wurde. Nicht den Resistanceverfolger wollten sie vor Gericht sehen, sondern den Gestapochef, der für die Deportation und Ermordung jüdischer Kinder verantwortlich war und damit seinen Beitrag zur „Endlösung der Judenfrage“ geleistet hatte. Die Staatsanwaltschaft Lyon beschränkte sich in ihrer 1985 fertiggestellten Anklageschrift auch rigoros auf drei Tatvorwürfe, die ausschließlich Barbies Beteiligung am Verbrechen der Judenvernichtung betreffen. Da Resistanceangehörige als Kombattanten anerkannt sind und an ihnen begangene Verbrechen als inzwischen verjährte Kriegsverbrechen gelten, konnten nach Auffassung der Anklagebehörde nur Barbies Aktionen gegen Juden unter das Gesetz über nichtverjährbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen. Die veränderte Anklage Nicht nur Barbies Verteidiger lief gegen diese beschränkte Anklage Sturm. Barbie war gerissen genug gewesen, sich keinen Anwalt aus der rechten Szene zu nehmen, sondern den linksradikalen Anwalt Jacques Verges zu gewinnen, der in Frankreich als militanter Verteidiger der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN bekanntgeworden war. Verges wirft den Justizbehörden vor, mit der Ausklammerung des Resistancethema verhindern zu wollen, daß vor Gericht der Verrat innerhalb der Resistance zur Sprache käme, dem Barbie seine Erfolge bei der Zerschlagung von Widerstandsgruppen verdanke. Darüber hinaus spricht er der französischen Justiz die Berechtigung ab, über Barbies Verbrechen zu Gericht zu sitzen, da die Verbrechen der Franzosen während des Algerienkriegs nach wie vor unter den Teppich gekehrt werden. Mit ganz anderer Begründung setzten sich auch Gegenspieler des Verteidigers, Verbände ehemaliger Resistancekämpfer und Deportierter, gegen die Lyoner Anklageerhebung zur Wehr. Statt daß der Prozeß wie vorgesehen Ende 1985 eröffnet wurde, kassierte das oberste französische Gericht die Anklage und beschloß eine Auslegung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, nach der auch an Resistancekämpfern begangene Verbrechen trotz Verjährung von Kriegsverbrechen verfolgt werden können. Sind solche Verbrechen nämlich im Namen eines Staates begangen worden, „der eine Politik der ideologischen Hegemonie betreibt“, so gelten laut diesem Beschluß nicht nur rassisch Verfolgte als Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch „die Gegner dieser Politik, welche Form ihre Opposition auch annehmen mag“. Mit anderen Worten: Damit ehemalige Resistancekämpfer im Barbie–Prozeß als Kläger auftreten können, werden sie mit den Juden auf eine Stufe gestellt - als Opfer eines einzigen Ausrottungswillens. Die ursprünglich klare Abgrenzung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die als Taten angesehen werden, die gegen die menschliche Gemeinschaft an sich began gen wurden, gegenüber Kriegsverbrechen, die an Einzelnen begangen wurden, die später individuell klagen konnten, ist damit verwischt. Im Einzelfall hat der Spruch dazu geführt, daß Kläger wie die ehemalige Resistanceangehörige Lise Lesevre juristisch in zwei Personen aufgespalten werden. Solange sie von Barbie verhört und gefoltert wurde, gilt sie als Kombattantin und die Tat als verjährt; mit dem Beginn der anschließenden Deportation verwandelt sich die Resistancekämpferin allerdings in ein Opfer der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik wie ein Angehöriger des Volkes der Juden oder der Sinti und Roma, das Gesetz über Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird anwendbar. In der Optik der jetzigen Anklage gegen Barbie erscheint Foltern als weniger strafwürdig als die Verschickung ins KZ. Ob das Schwurgericht in Lyon solchen bizarren Konstruktionen folgt, kann niemand voraussagen. Denkbar ist, daß sich im Verlauf des Prozesses eine andere Auffassung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchsetzt, näher an der Intention der Rechtsprechung des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, auf den sich das französische Gesetz beruft.