: Sehen Sie zu, wie Sie klarkommen“
■ Was Zählerschulungen den Volkszählern bei Problemfällen raten / „Gesunder Menschenverstand“ hilft gegen Vobo / Im Zählerkoffer Formulare gegen offenkundige Verweigerer / Die Angehörigen der Zähler dürfen nicht neugierig sein
Von Vera Gaserow
Berlin (taz) - Im Gesetz habe ich den entscheidenden Paragraphen zwar nicht gefunden, aber dennoch weiß ich jetzt, was das Wichtigste bei der Volkszählung ist: „der gesunde Menschenverstand“. Der „gesunde Menschenverstand“ ist das Lieblingswort von Schulungsleiter P., der mir und meinen rund 100 Mitschülern das Volkszählen beibringen soll. „Nehmen Sie Ihren gesunden Menschenverstand!“, rät Herr P. immer dann, wenn es auf die Frage: „Was soll ich machen, wenn?“, keine rechte Antwort gibt. Drei Stunden, so hatte uns das „Amt für Volkszählung“ freundlich mitgeteilt, würde „die Schulung mit anschließender Übergabe der Unterlagen“ dauern, doch schon nach anderthalb Stunden fragt Schulungsleiter P. mürrisch in Richtung auf die harten Holzbänke: „Noch weitere Fragen?“ Zu diesem Zeitpunkt schwirrt den „Schülern“ schon der Kopf von all den Formularen, Mantelbögen, Erinnerungsblättern und Volkszählungsbriefen. Eigentlich interessiert ohnehin nur eines: wie man mit dem aufgezwungenen Ehrenamt so schnell wie möglich fertig wird und was von den Volkszählungsgegnern zu erwarten ist. „Sie müssen doch wissen, was die Boykottbewegung ihren Leuten empfiehlt, können Sie uns nicht drauf vorbereiten?“, verlangt ein älterer Herr. Schulungsleiter P. winkt nur ab. „Na, Sie wohnen wohl nicht in Kreuzberg!“, protestieren seine Schüler empört. „Ich habe aber keine schußsichere Weste“, klagt ein anderer unter dem Gelächter seiner Kollegen, und ein Dritter denkt schon laut über seine Rente nach, falls ihm bei seinem Ehrenamt etwas passiert. „Darf ich einen scharfen Schäferhund als Geleitschutz mitnehmen?“, will der Herr in der dritten Reihe wissen. Ja, meint Schulungsleiter P., nur beißen darf das Vieh nicht. Mit den ganz harten Boykotteuren, so kann Herr P. seine Schüler beruhigen, ist das noch ziemlich einfach: „Sie sind nicht verpflichtet, sich in Gefahrensituationen zu begeben und stundenlang zu diskutieren. Wenn jemand die Annahme des Bogens verweigert oder Ihnen unmißverständlich die Tür vor der Nase zuknallt, notieren Sie das auf diesem Vordruck.“ Auf der Schautafel erscheint das Formular „Mitteilung über Personen, die die Annahme des Erhebungsbogens abgelehnt haben“. „Umgehend“, so steht in den Zählerunterlagen, müssen solche Fälle mit Datumsangabe dem Amt für Volkszählung gemeldet werden. „Aber ich habe gelesen, daß die Boykotteure ihren Leuten raten, den Bogen entgegenzunehmen, ihn zu einer Sammelstelle zu bringen und immer neue Bögen anzufordern“, wirft ein Mit–Zähler ein, wWie oft muß ich denn da dieses Katz–und–Maus–Spiel mitmachen und zu dem hinlaufen?“ Dreimal muß er, meint Schulungsleiter P., dann dürfe er den Fall abhaken, „den Rest erledigen wir“. Und wenn jetzt an allen Haustüren „Erika Mustermann“ stehe? „Notieren Sie das, was die Leute Ihnen sagen und geben Sie entsprechende Bögen aus.“ Bei einer Wohngemeinschaft z.B., erklärt Herr P., „fragen Sie einfach: Macht ihr gemeinsame Kasse oder nicht? Wenn die nicht zusammen kochen, sind das getrennte Haushalte.“ Und wenn jemand behauptet, in seiner Einzimmerwohnung würden zehn Haushalte leben? „Dann kriegt er eben die zehn Bögen.“ „Ist für uns doch nur gut“, murmelt eine ältere Dame, die das mit dem „gesunden Menschenverstand“ offenbar richtig begriffen hat, „bei zehn Bögen kriegen wir doch mehr Geld. Man muß das doch auch mal finanziell sehen.“ Mit jeder angetroffenen Person sollen die Zähler/innen einen Rückgabetermin möglichst kurz nach dem Stichtag 25.5. vereinbaren und in ihre Liste eintragen. Spätestens bis zum 18. Juni soll in Berlin jeder Bogen wieder „eingefangen“ sein. Doch erst einmal geht es darum, sie überhaupt an Mann und Frau zu bringen, z.B. bei den Ausländern. „Was soll ich denen denn sagen, was ich will, wenn die kein Wort Deutsch verstehen?“ „Halten Sie denen die Übersetzungshilfe vor“, rät Herr P. „Aber wenn das Analphabeten sind?“ „Ach, sehen Sie zu, wie Sie damit klarkommen!“ Nachdem Herr P. uns ausdrücklich auf unsere Geheimhaltungspflicht hingewiesen hat, die wohlgemerkt „sehr restriktiv auszulegen ist“, beginnt nun der praktische Teil: Hinter geheimnisvollen Stahltüren, die die Volkszählungsämter für jeden sichtbar zu einer „abgeschotteten“ Behörde machen, beginnt die Ausgabe der acht Kilo schweren Pappkoffer, in denen jeder Zähler neben Informationsmaterial, Bleistiften, Zählerausweis und Erhebungsbögen auch den Auszug aus dem polizeilichen Melderegister für seinen Zählbezirk vorfindet. Das ganze ist natürlich streng geheim, so geheim, daß man/frau in diesem gut abgeschotteten Amt nicht einmal den Personalausweis vorzeigen muß, um in den Besitz dieses kostbaren Pappkartons zu kommen. Den muß man dann, so hat uns Herr P. vorher eindringlich belehrt, vor dem „Zugriff Dritter schützen“. Nein, einen Tresor brauche man deshalb nicht in der eigenen Wohnung zu installieren, auch die Zimmertür zu verriegeln sei nicht nötig. „Tun Sie das Ding in den Schrank und sagen Sie den anderen Personen in Ihrer Wohnung, sie sollen nicht neugierig sein.“ So wirkt der gesunden Menschenverstand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen