Hessen: Eiliges Aus für Förderstufen

■ Kommunalpolitiker und Schulträger fühlen sich von CDU und FDP überrumpelt / Anhörung der SPD im Landtag / Vertreter der Landkreise beklagen den Verlust hoher Investitionen für Gesamtschulen

Aus Wiesbaden Heide Platen

Mit verhaltener bis offener Empörung reagierten gestern Vormittag im hessischen Landtag Schulträger der Landkreise auf die Politik der neuen CDU/FDP–Regierung. Sie gehören zu den Leidtragenden einer Gesetzesänderung, die diese Woche in erster und zweiter Lesung verabschiedet werden wird. Ab Freitag wird dann das sogenannte „Schulfreiheitsgesetz“ in Kraft sein, das zu den Wahlversprechen der CDU gehörte: Die Förderstufe wird nach und nach ausgedünnt, das „dreigliedrige Schulsystem“ der 50er Jahre mit Grund– und Realschule und Gymnasium wieder restauriert. Vier Ex–Minister der SPD hatten sich gestern Vormittag zu einer kurzfristig von ihrer Fraktion einberufenen Anhörung der Betroffenen eingefunden. Dem war Ende der vergangenen Woche ein Eklat im Landtag vorausgegan gen. Die CDU/FDP–Landesregierung hatte die beratenden Ausschüsse des Landtages während ihrer Sitzung überraschend mit einem völlig neuen Gesetzesentwurf konfrontiert. SPD und Grüne verließen daraufhin die Sitzungen. Eine Beratung des Gesetzes sei unmöglich gemacht worden. Für Unmut bei den versammelten Schulträgern, Kreis– und Landräten und Schuldirektoren sorgte auch ein Brief, der während der Anhörung verteilt wurde. Der neue Kultusminister, Christian Wagner, wandte sich darin „im Mai 1987“ an die Eltern der zum 1. Juni anmeldepflichtigen Schulkinder und heftete gleich ein Anmeldeformular bei. In der Anhörung war viel von „Tod“, „Zerschlagung“ und „Liquidation“ der sozialdemokratischen Schulreform mit ihren additiven und integrierten Gesamtschulen und ihrer flächendeckenden Förderstufe in den fünften und sechsten Schulklassen die Rede. Landrat Kern nannte die Folgen für seinen Landkreis Hersfeld– Rothenburg katastrophal. Wenn die Eltern jetzt ihre Kinder in den Gymnasien der größeren Städte anmeldeten, seien 230 Millionen Mark Investitionen in die Gesamtschulen „in den Sand gesetzt“. Professorin Gertrud Beck, Pädagogin und Vertreterin des Arbeitskreises Grundschule, nannte das CDU–Gesetz „zynisch“ und kinderfeindlich. Wenn die Schüler nun wieder nach der vierten Klasse getrennt und unter Konkurrenz– und Leistungsdruck gesetzt werden sollten, sei dies das Ende auch der Grundschulreform. Grundschullehrer müßten nun wieder „die Auslese“ treffen. Die CDU hatte im Wahlkampf versichert, daß die Eltern künftig in Hessen zwischen traditionellem Schulsystem und Förderstufe wählen können. Wenn „60 Schüler zur Verfügung“ stehen, bliebe die Förderstufe erhalten; für die Einrichtung einer Gymnasialklasse genügen 20 Anmeldungen. Dies bedeute das „Aus“ für sieben von zwölf Förderstufen, so Peter Benz für den Landkreis Darmstadt. Für Wiesbaden gab die Delegierte Goldmann eine Stellungnahme ab, die Konfrontation mit der Landesregierung bedeutet. Der Wiesbadener Oberbürgermeister habe an Ministerpräsident Wallmann geschrieben, er werde heute an einer Demonstration gegen die neuen Schulgesetze teilnehmen (Wiesbaden, 16 Uhr, Luisenplatz). Wiesbaden halte das neue Gesetz nicht für praktikabel. Ex–Justizminister Günther erklärte, seine Fraktion werde auf eine „einstweilige Anordnung“ gegen das Gesetz vorerst verzichten. Die Grünen wollten heute zur zweiten Lesung des Gesetzes mit einem Dringlichkeitsantrag reagieren. Sie fordern erneute Beratungen in den Ausschüssen.