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„Entschlossenheit ist das Gebot der Stunde“

■ Mit phantasievollen Aktionen auch außerhalb des Campus protestieren Göttinger Studenten gegen die geplanten niedersächsischen Sparmaßnahmen / „Alle Macht den Räten“ ist das geschichtsbewußte Motto des „Zentralen Streikrats“

Aus Göttingen Reimar Paul

Ungewöhnliche Dienstleistungen bietet eine Gruppe von Frauen in der Fußgängerzone an: „Sollen wir Ihnen die Schuhe putzen? Kostet nur 20 Pfennig.“ Von dieser Frage überrascht, werden die Passanten in Gespräche über die möglichen Folgen des Einsparungs– und Umverteilungsprogramms der niedersächsischen Landesregierung verwickelt. Wenn die Streichung der Weihnachtsbeihilfe für Sozialhilfeempfänger, der Winterbeihilfe für Arbeitslosenhilfeempfänger und von 6.000 Stellen im Öffentlichen Dienst, der Einstellungsstop und Studiengebühren von 500 Mark bei Überschreitung der Bafög–Höchstförderungsdauer tatsächlich durchgesetzt würden, dann müßten bald viele Menschen erniedrigende und schlecht entlohnte Hilfsabeiten - für die das Schuheputzen hier symbolisch steht - annehmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieser Aspekt ist nur einer von mehreren bei der umstrittenen Entscheidung des Albrecht–Kabinetts, die Schuhputzer–Aktion nur eine von vielen, mit denen die Studenten der Göttinger Uni ihren am Montag begonnenen „aktiven“ Streik in die Öffentlichkeit tragen wollen. Bei nur wenigen Gegenstimmen hatte am 5. Mai die mit ca. 3.000 Teilnehmern bestbesuchteste Uni–Vollversammlung seit Jahren den Ausstand für diese Woche beschlossen. Dienstag mittag, nach anderthalb Tagen, „steht die Streikfront“. Sprecher vom Zentralen Streikrat berichten, daß Lehrveranstaltungen bislang praktisch nicht stattgefunden haben. Auch Kleinst–Fachbereiche wie z. B. die Orientalisten melden den erfolgreichen Boykott des Vorlesungsbetriebes und gut besuchte Streik–Versammlungen. Am Sport–Institut sind die Tennisplätze verwaist, die Geräteausgabestellen blockiert. Sehr zum Ärger derjenigen, die nicht einsehen mögen, „was denn der Hochschulsport mit den in Hannover beschlossenen Sparmaßnahmen zu tun hat.“ Mittelpunkt des Streikgeschehens ist das Geisteswissenschaftliche Zentrum auf dem Campus. Die Eingänge zu den Hörsälen und Seminargebäuden sind mit Müllcontainern, Kanthölzern, Tischen und Fahrradständern verbarrikadiert. Geöffnet haben hier nur die als Info–Büros fungierenden Streik–Cafes; im Historiker– Turm wird alternativ „Streik–Tee aus dem Samowar“ angeboten. An den Fassaden und aus den Fenstern hängen Transparente. Frisch gepinselte und gesprühte Parolen verleihen den grauen Betonklötzen Farbe. Waren am Montag bis auf den tätlichen Angriff eines Verfassungsgeschichte–Professors auf Streikposten größere Konfrontationen ausgeblieben, schien sich die Situation am Dienstag zu verschärfen. Studenten, die seit dem frühen Morgen bei teilweise strömendem Regen an Blockaden Teilgenommen hatten, berichteten am Mittag von massiven Rangeleien mit Lehrkräften und einigen studierwilligen Kommilitonen. Die Uni–Leitung hat ihrerseits in das Geschehen eingegriffen. Um Alternativ–Veranstaltungen zu verhindern, wurden die noch zugänglichen Räume abgeschlossen. Präsident Kamp untersagte den Organen der Verfaßten Studentenschaft - gemeint sind AStA und Fachschaften - in einer Verfügung, „Aktionen durchzuführen..., die auf eine Behinderung des Lehr– und Forschungsbetriebes gerichtet sind“ und „für die ... genannten Handlungen Haushaltsmittel der Studentenschaft einzusetzen.“ Tatsächlich tritt der AStA als eigenständige Institution gar nicht in Erscheinung, sondern hat sich in die Streik– Strukturen integriert. Zwischen den Uni–Vollversammlungen koordiniert der „Zentrale Streikrat“, in den die Fachbereiche und Seminare Delegierte entsenden, die Aktivitäten. In einer als Plakat veröffentlichten Mitteilung heißt es, geschichtsbewußt, wörtlich: „Die oberste Leitung und Koordination hat ein provisorischer Rat der Streikbeauftragten übernommen. Die Anordnungen des bisherigen Universitätspräsidenten Kampf sind außer Kraft. ...Solidarität und Entschlossenheit sind das Gebot der Stunde! Alle Macht den Räten!“ Dezentralen Initiativen sind dennoch keine Grenzen gesetzt. Montag nachmittag starteten die Mediziner eine Spontan–Demo durch die Innenstadt mit immerhin 500 Leuten. Für Dienstag stand ein Fahrradkonvoi Richtung Hannover auf dem Programm, „so weit die Räder rollen“. Und am Donnerstag soll es einen Protest– Dauerlauf der Sportstudenten geben. Unzählige Diskussionsveranstaltungen, von Nicaragua bis zur Volkszählung, begleiten darüberhinaus den Streik. Bedeutsam erscheint die bislang erfolgreiche Zusammenarbeit der Studenten mit außeruniversitären Gruppen. Der DGB– Kreisverband, dessen Vorsitzender Zimball bereits auf der Uni–VV sprach, unterstützt entschieden die Streikaktionen und ruft, ebenso wie die Grünen, das Arbeitslosenzentrum und der Stadtschülerrat zu einer Großdemonstration für Mittwoch nachmittag auf.

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