Schatten von Nürnberg über Lyon

■ Die revidierte Anklageschrift gegen den ehemaligen Gestapochef von Lyon, Klaus Barbie, setzt Resistance–Kämpfer mit Juden im Sinne des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals gleich / Genugtuung für die Opfer oder historische Lektion über Nationalsozialismus?

Aus Lyon Lothar Baier

Nicht einem einzelnen Mann, sondern einem barbarischen System, dem Nationalsozialismus, soll in Lyon der Prozeß gemacht werden. Diesem Vorhaben, das in der französischen Öffentlichkeit weithin als politische Rechtfertigung für das Verfahren 42 Jahre nach Kriegsende gilt, steht jedoch die Rechtslage entgegen. Die Anklage gegen Barbie ist schon deshalb ein sehr lückenhaftes Geschichtskapitel, weil sie alle Taten aus der Verhandlung verbannt, für die der ehemalige SS–Obersturmführer Barbie schon einmal in Abwesenheit verurteilt wurde. 1952 war Barbie vom Militärgericht Lyon wegen Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt worden, die er bei einem blutigen Feldzug gegen die Resistance des Jura begangen hatte. 1954 hatte ein weiteres Militärgericht über Barbie wegen einer Reihe in Lyon begangener Kriegsverbrechen - willkürliche Exekutionen von Gefangenen im Gestapogefängnis Montluc - die Todesstrafe verhängt. Nicht nur die Strafen von damals sind heute verjährt. Auch die damals verhandelten Taten können nach dem Grundsatz der „causa judicata“, der abgeurteilten Sache, nicht mehr in das gegenwärtige Verfahren eingeführt werden. Die eingeschränkte Logik der Rechtsprechung stößt so mit dem historischen Interesse an der ganzen Wahrheit zusammen. Mag Barbie auch ein exemplarischer Naziverbrecher gewesen sein, so wird seine nationalsozialistische Vergangenheit vor Gericht doch nur fragmentarisch abgehandelt werden können. Ein weiteres Problem liegt in der eigenartigen Auffassung des nationalsozialistischen Vernichtungswillens, die in der revidierten Fassung der Anklage enthalten ist. Ihr vollständiger, vor Gericht verlesener Wortlaut macht deutlich, daß sich die federführende Pariser Anklagekammer dazu verleiten ließ, den Begriff der „Vernichtung“ sehr weit auszu dehnen, damit die an Resistancekämpfern begangenen Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals verfolgt werden können. Die Anklageschrift springt zum Zweck der Strafverfolgung auf den historischen Erkenntnisstand des Jahres 1946 zurück, wenn sie unter Berufung auf Nürnberg „alle Konzentrationslager als Vernichtungslager“ qualifiziert. Zwischen der industriellen Vernichtung von Menschen in den Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Sobidor oder Belzec und der „Vernichtung durch Nahrungsmangel, Mangel an Hygiene, Schwerarbeit, Quälereien“ usw. wird kein qualitativer Unterschied gemacht. Die einzig zum Zweck der Ju denvernichtung errichteten Lager in Polen werden mit dem 1933 eröffneten KZ Dachau oder dem KZ Buchenwald (1938) gleichgesetzt. Unter dem Gesichtspunkt der „Menschlichkeit“ sind gewiß sämtliche Insassen der KZs unmenschlich behandelt worden, gleichgültig ob es Widerstandskämpfer, Kommunisten, Gewerkschafter, Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder gewöhnliche Kriminelle waren. Aber nur die Juden wurden in der Absicht in die für sie vorgesehenen Lager deportiert, sie dort zu ermorden, um „dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen“, wie der SS– Chef Himmler seinen Getreuen gegenüber erklärte. Um Resistancekämpfer zu klageberechtigten Opfern eines globalen Vernichtungswillens erklä ren zu können, stellt die Anklage sie ausdrücklich den Juden gleich. Muß man die Verwischung der Unterschiede vielleicht aber in Kauf nehmen, damit die überlebenden Opfer eine späte Genugtuung erhalten? Es erscheint selbst unmenschlich, von ehemaligen Resistancekämpfern, die im Gerichtssaal anwesend sind, sichtbar von den erlittenen Torturen gezeichnet, zu erwarten, daß sie der historischen Genauigkeit zuliebe auf Vergeltung verzichten. Das Gesetz, aufgrund dessen Barbie angeklagt ist, war von seinen aliierten Initiatoren allerdings nicht erfunden worden, um alle Arten unmenschlicher Behandlung zu bestrafen, sondern um ein ganz bestimmtes, unerhörtes Verbrechen zu ächten: das, was die Nazis die „Endlösung der Judenfrage“ nannten. Weil die Bestimmung neu war, und weil die Nürnberger Richter das ganze Ausmaß des Vernichtungsplans der Nazis nicht kannten, wurde das Gesetz über Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1946 in Nürnberg äußerst behutsam angewandt. Kein Naziführer wurde schließlich aufgrund der Bestimmung bestraft, sondern der literarische Judenhetzer Julius Kläger. Hinter dem in Lyon jetzt ausgebrochenen Streit um die Zulassung individueller Klagen verbirgt sich, was bei dem Prozeß auf dem Spiel steht: ob es dem Gericht in Lyon gelingt, dem Angeklagten Klaus Barbie nachzuweisen, daß er an dem an der Menschheit begangenen Verbrechen der „Endlösung“ beteiligt war und davon wußte.