Selbstanzeige

■ Kohl bezichtigt Vobos der „faschistischen Gesinnung“

Wollte er nicht den Schlußstrich ziehen zur nationalsozialistischen Vergangenheit? Wird Kohl von dem geschoben, was er wegschieben will? Keilt das Verdrängte in ihm aus? „Zutiefst faschistische Gesinnung“ warf der große Schwadroneur jetzt den Volkszählungsboykotteuren vor. Allmählich kennt der oberste Vergangenheitsbewältiger der Nation keine Gegner mehr, sondern nur noch Faschisten, angefangen bei Gorbatschow, über die DDR bis zu den Vobos. Bevor man sich jedoch empört, sollte man begreifen, daß dumpfe Dreistigkeit und Taktik kein Widerspruch sind. Er besetzt die Propagandafront und plaziert zugleich eine Selbstanzeige: Wenn er derart ausfällt, geistig und taktisch, aktualisiert er eben die historische Nähe von Volkszählung und nationalsozialistischer Erfassungstechnologie. Eine Nähe, die schon dadurch gegeben ist, daß Überlebende einstiger „Erfassung“ immer noch in diesem Lande leben. Auch sollte man würdigen, daß Kohl immerhin der Wahrheit nahekommt, wenn er den Volkszählungboykotteuren vorwirft, es gehe ihnen darum, die „Autorität des Staates“ zu bekämpfen. Da hat er wiederum recht! Sicherlich hält sich bei den meisten Boykotteuren die Angst vor Erfassung und die Freude an der Chance, die Autorität des Staates derart leicht und massenhaft zu kränken, durchaus die Waage. „Dieser“ Staat hat die Materialien zu einer Barrikade frei Haus geliefert, die sich quer durch die Bundesrepublik zieht. Es ist so selten, daß sich eine Protestbewegung nicht aus der Aussichtslosigkeit, sondern aus der Erfolgschance entfaltet. Dieser Volkszählungsstaat macht keinen Staat. Das hat Kohl begriffen. Aber typischerweise liegt eben bei ihm zwischen Begreifen und politischer Revanche das Fettnäpfchen, in das er immer wieder treten muß. Das kommt vom Schlußstrichziehen. Klaus Hartung