Die „Neuen“ bei den Grünen: „Unabhängig“ - aber wofür?

■ Neue Orientierungen und Formationen bei den Grünen / Die „Unabhängigen“ als integratives Element? Kritik an der innerparteilichen Polarisierung / „Strömungsübergreifende“ Ansätze sollen Dialog fördern

Aus Bonn Oliver Tolmein

Allmählich wird es schwierig für die Beobachter der Grünen. Die alte Unübersichtlichkeit, zeitweilig durch das Aufkleben der Etiketten „Fundi“ und „Realo“ scheinbar geordnet, bricht aufs neue durch. Erst auf dem Parteitag in Duisburg Anfang Mai und jetzt auch in der Bundestagsfraktion haben sich „Unabhängige“ getroffen um Bewegung in die grüne Landschaft zu bringen, um „verkrustete Strukturen aufzubrechen“ (Bärbel Rust) und einen „neuen Dialog“ in der Partei zu initiieren. „Jetzt drei Flügel bei den Grünen“ versucht die Süddeutsche Zeitung noch wenigstens die alte Metapher zu retten. Die Karikaturisten werden herauszufinden haben, ob sich auch Dreiflügler in der Luft halten können. Aber nicht nur die „Unabhängigen“ bewirken neue Ausformungen im grünen Profil. Auch im dezidiert realpolitischen Lager entwickeln sich seit der Bundestagswahl neue Positionen. Bereits in der Wahlnacht optierte Otto Schily für die Grünen als „Partei der Mitte“. Eine Wunsch–Standortbestimmung, die auch im eigenen realpolitischen Lager seitdem umstritten ist, die aber ebenso wie Lukas Beckmanns parallel vorgetragene Hinwendung zu christlichen Grundwerten, ihre Anhänger findet. Die „Niederlage für das Konzept einer grünen Realpolitik“ (Hubert Kleinert zur Hessenwahl) ist dann im auf Regierungsbeteiligung orientierten Spektrum der Grünen zum Auslöser für eine Diskussion geworden, die nicht in großem Maßstab geführt wird und vorerst noch keine Ergebnisse zeitigt, die aber sicherlich folgenreich für die weitere Formierung dieses Teils der Grünen bis zur nächsten Bundestagswahl sein wird. Drei Ansätze für neue Orientierungen können vorerst ausgemacht werden: Die von Lukas Beckmann in einer Bewertung des Hessen–Wahlergebnisses geforderte konsequente Hinwendung zum C der CDU aus radikalökologischer Sicht“; die von der Fraktionssprecherin Bärbel Rust initiierte Gruppe der „Unabhängigen“ in der Bundestagsfraktion und die von Otto Schily vorangetriebene „Mitte–Diskussion“. Das Interesse der Ansätze von Beckmann und Rust ist es, „uns strömungsübergreifend mit jener Wirklichkeit von Menschen und Gesellschaft auseinanderzusetzen“ (Beckmann) bzw. „verkru stete Strukturen und verfestigte Machtblöcke aufzubrechen“ (Rust). Auf den Diskussionen am Rande des Grünen–Parteitags in Duisburg Anfang Mai zeigte sich, daß Beckmanns Vorstoß in Richtung CDU in dieser Deutlichkeit von prominenteren Parteimitgliedern nicht mitgetragen wird. Sowohl hessische Realpolitiker wie Joschka Fischer oder Hubert Kleinert als auch eine Propgandistin der flügelübergreifenden „Unabhängigen“ wie Antje Vollmer legen Wert darauf, ihre Politik als „linke Politik“ zu bezeichnen. „Wir müssen im Rücken der CDU auftauchen und ihr im Nacken sitzen“, beschreibt Antje Vollmer den Unterschied zwischen ihrer und Beckmanns Position, „aber wir dürfen keine Unterwerfungsrituale vollführen“. Und auch ein CDU/CSU–erfahrener Politiker wie Alfred Mechtersheimer kann Beckmanns Orientierungsversuchen nichts abgewinnen: „Die CDU ist eine Partei, die ihre Identität nicht durch das C sondern durch den Kalten Krieg bekommen hat, für deren Politik der Aufbau von Feindbildern konstitutiv ist“. Wenn das christliche Element bei den Grünen gestärkt werden solle, mache es Sinn mit Gruppen wie der „Kirche von unten“ zusammenzuarbeiten, aber nicht mit der CDU. „Außerdem müßte man aber erstmal inhaltlich füllen, was mit dem C überhaupt gemeint sein soll“. Trotz geringer Zustimmung bei den Prominenten wirkten Beckmanns Schlußfolgerungen aus dem hessischen Wahlergebnis vor dem Parteitag nicht nur publizistisch: der Beifall, den Beckmann für seinen Rechenschaftsbericht als scheidender Vorstandssprecher von den Delegierten kassierte, war mehr als nur ein Pflichtapplaus. Seine Kritik an der „Fixierung auf die SPD“ wird bisher vor allem von Grünen aus dem ökolibertären Lager oder von der an der Formierung der „Unabhängigen“ in der Fraktion beteiligten Halo Saibold geteilt. Mit zunehmender Abstinenz der Grünen von rot–grüner Regierungsverantwortung wächst jetzt aber ihre Chance, in weiteren Bereichen der Mitgliederschaft Gehör zu finden. Hubert Kleinert sieht in dieser an sich nicht neuen, jetzt nur wieder aufgeflackerten Diskussion einen grundsätzlichen Aspekt: „Jetzt kommen wieder Konflikte hoch, die schon lange in der Partei angelegt sind. Wir, und damit meine ich ausnahmsweise mal die Ham burger und die Hessen gleichermaßen, vertreten nicht den grünen Geist, das ist Gewaber, Diffusität, Unklarheit, das sind so Ansätze wie der von Lukas. Wir haben einen rationalistischen, strategisch orientierten Politikansatz.“ Populärer als Beckmanns Initiative, die das Bemühen einschließt „in der CDU die Voraussetzung für (Tolerierungs– und Koalitions–) Gespräche zu schaffen“, ist derzeit die Formierung einer „Unabhängigen“–Gruppe. Über deren inhaltliche Ausrichtung allerdings herrscht noch weitgehend Unklarheit. Etwa siebzig Leute versammelten sich auf dem Parteitag als „Unabhängige“: In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten sie zwar die „innerparteiliche Polarisierung“, setzten ihr aber keine eigenen Positionen entgegen, sondern forderten nur „auch ohne Lagerzugehörigkeit gehört zu werden“. An der Organisation des „Unabhängigen“–Treffens in Duisburg war die Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Bärbel Rust, nicht beteiligt. Sie hielt die dortige Initiative für „verfrüht“. In der Fraktion allerdings ist ihrer Meinung nach die Zeit gekommen, weil „die Strömungen ihre Dialogfähigkeit verlieren“. Das Dilemma ihrer „Unabhängigen“– Initiative ist allerdings ähnlich gelagert wie das der Gruppe auf dem Parteitag: Am Anfang stehen keine eigenen Inhalte, sondern die Unzufriedenheit mit der Polarisierung in der Fraktion. Daher resultiert auch die Skepsis von Alfred Mechtersheimer, der, obwohl einer der wenigen in der Fraktion, der mal mit den Linken, mal mit dem realpolitischen Flügel stimmt, sich an dem „Unabhängigen“–Treffen am 8. Mai im Haus Wittgenstein nicht beteiligt hat: „Formierungen und Zusammenführungen müssen sich um eine Idee ranken, sie dürfen sich nicht primär definieren als eine Frage des Politikverhaltens, etwa: wir wollen weniger Konfrontation.“ Emanzipation wohin? Genau diese Konzentration auf das Politikverhalten aber zeichnet die bisherigen Stellungnahmen von Abgeordneten, die an dem Unabhängigen–Treffen teilgenommen haben, aus. Sowohl in Antje Vollmers in der taz abgedruckten Diskussionsbeitrag „Boykottiert das Hauptquartier“, als auch in internen Positionspapieren von Wilhelm Knabe „Grundsätze der Unabhängigen bei den Grünen“ und Halo Saibold „Polarisierung ist der falsche Weg“, geht es zentral um die Chance der Grünen, sich von den Strömungen „zu emanzipieren“, ohne daß deutlich gemacht würde, wohin diese Emanzipation führen soll. Was Wilhelm Knabe als „Grundsätze der Unabhängigen“ bezeichnet, „keinen ideologisch oder aktuell politischen Ausschließlichkeitsanspruch zu stellen“, ist weder bei Realos noch bei Ökosozialisten umstritten. Und Antje Vollmers Frage „Wie vermeidet man eine Kurskorrektur der SPD Richtung große Koalition?“ stellt sich zumindest den auf rot–grün fixierten Realpolitikern ähnlich brennend. Hannelore Saibolds Credo, daß „es heute eben nicht mehr um ein entweder oder, sondern (um ein) sowohl als auch (geht)“, entfaltet seine Brisanz sicher auch erst in der Konkretion. Bärbel Rust ist dieses inhaltliche Defizit bewußt, deswegen hält sie die selbstgewählte Bezeichnung „Unabhängige“ auch „für nicht besonders glücklich“: „Unabhängig soll nicht heißen, daß wir keine Meinung haben, wir sind schon eindeutig festgelegt auf Reformpolitik. Aber wir wollen einen Raum zwischen den beiden Flügeln schaffen, um den Dialog nicht sterben zu lassen“. Ein Blick auf die Teilnehmerliste des ersten „Unabhängigen“–Treffens zeigt, daß die meisten, so sie überhaupt bemerkbar politische Positionen vertreten haben, bisher wenig inhaltliche Differenzen zum realpolitischen Flügel haben. Auch bei Abstimmungen in der Fraktion haben Helga Brahmst–Rock, Caritas Hensel, Willy Hoss, Wolfgang Daniels, Wilhelm Knabe, Gertrud Schilling und auch Antje Vollmer eher mit den profilierten Realpolitikern als mit den linken Ökosozialisten gestimmt. Eine Ausnahme bildet hier eigentlich nur Christa Nickels. In der für die Flügelbildung bislang wesentlichen Frage „Koalition ja oder nein“ sind die „Unabhängigen“, soweit sie sich dazu überhaupt schon mal geäußert haben, auf ein „Ja“ festgelegt. Bärbel Rust hat auch nach der Wahlniederlage in Hessen an der Pressekonferenz des realpolitischen Flügels teilgenommen. Bemerkenswerter als die inhaltlichen Differenzen zum realpolitischen Flügel ist, daß sich bei den „Unabhängigen“ vor allem Frauen zusammengefunden haben. Für Bärbel Rust ein leicht zu erklärendes Phänomen, das sie aber doch nicht dazu bewogen hat, es programmatisch umzusetzen und eine „Gruppe unabhängiger Frauen“ anzuregen: „Die Fixierung auf Strömungen ist eng verbunden mit einer Fixierung auf Strömungshengste. Frauen bilden an den Spitzen der Flügel die Ausnahme“. Eine Beobachtung, die auch Alfred Mechtersheimer gemacht hat, der deshalb auch meint, daß die Gruppe der Frauen sich als einzige auch zu einer um eine Idee herum gebildete unabhängige Gruppe in der Fraktion hätte entwickeln können: „Das ist eine der großen Enttäuschungen, daß es dazu trotz anfänglicher Ansätze nicht gekommen ist“. Angesichts der aktuell fehlenden eigenen Inhalte der „Unabhängigen“ einerseits und des sehr schwach ausgeprägten politischen Profils der meisten andererseits, ist es nicht erstaunlich, daß in der Fraktion vermutet wird, bei den „Unabhängigen“ werde nur „das Ressentiment gegen vermeintliche Unterdrückung durch die Flügel organisiert“, wie Waltraud Schoppes Mitarbeiter Udo Knapp meint. Da die Flügel seiner Meinung nach die „historischen Fragestellungen der sozialen Bewegungen“ repräsentieren, findet er am offenen Streit und den harten Positionen auch nichts Schlechtes. Bei der Gewaltdebatte, die die Fraktion am 2. Juni durchführen wird, wird sich zeigen, ob die Zweifel am eigenen Profil der „Unabhängigen“ berechtigt sind, denn auf diese Debatte, das war der konkreteste Beschluß des ersten Treffens, wollen sie sich unabhängig vorbereiten.