: Streiken mit der subversiven Kraft des Lärms
■ In Frankfurt bestreiken Schüler drei Gymnasien und besetzen ihre Schulen / Gegen die Verschärfung des Abiturs und gegen „Elite–Bildung“ / Protest „gewalt–, alkohol– und beschädigungsfrei“ / Die „Befreiung der Kleinen“ ist umstritten
Aus Frankfurt Heide Platen
Pfeifen und Rasseln, Kochtöpfe, Glocken und Trompeten lärmen. Eine Autohupe heult im Dreiklang durch den vierstöckigen Treppenflur der Bettina–Schule im noblen Frankfurter Westend. Vor dem Chemie–Saal drängen sich die Schülerinnen und Schüler und trommeln an die Tür. Drinnen hat sich die Lehrerin H. eingeschlossen. Zusammen mit über 100 Schülern. Sie sollen nicht am Schulstreik teilnehmen, sondern eine naturwissenschaftliche Arbeit schreiben. Der Lärm machts unmöglich, die letzte Bastion fällt, und der Schulstreik, der gestern vormittag nach der zweiten Stunde begann, ist perfekt. Die Frankfurter Bettina–Schule wehrt sich geschlossen gegen die von der Bundesregierung geplante Verschärfung der Abitur– Bestimmungen. Und nicht nur die Bettina–Schule. In der Main–Metropole streikten gestern auch die Max–Beckmann– und die Elisabethenschule. Die drei Gymnasien verstehen sich laut Schulsprecher Max als „Vorreiter“. Sie wollen an die Proteste „in Frankreich“ und an Schulstreiks im ganzen Bundesgebiet vor Ostern anknüpfen. „Aber“, sagt Max, „wir sind ganz unpolitisch.“ - „Na ja“, meint ein kleiner blonder Kollege, „jedenfalls nicht parteipolitisch, eher außerparlamentarische Opposition“. Gegen die Abschaffung der Förderstufe, die von der neuen hessischen Landesregie rung gerade in diesen Tagen im Landtag durch eine Gesetzesänderung vorbereitet wird, sind die Gymnasiasten auch. „Elite–Bildung - Nein danke“, steht dick mit roter Farbe auf die Fenster scheiben geschrieben. Gegen 11.30 Uhr erhalten die rund 1.000 Bettina–Schüler Unterstützung. Die Mädchen und Jungen aus der Elisabethenschule kommen vorbei und holen einen Teil der Streikenden ab. Zusammen ziehen sie durch die Stadt und vor die anderen Schulen und fordern zum Mitmachen auf. Aber nicht alle dürfen demonstrieren gehen. Sie müssen bleiben und ihre Schule „besetzt“ halten. „So lange wie möglich“, sagt Max. In der Teestube liegen die Schlafsäcke bereit. Nach einem Fest soll in der Schule übernachtet werden. Heute steht dann das nächste Fest auf dem Programm, in den Ernst–Reuter– Schulen I und II in der Trabantenstadt Nordweststadt, die sich dem Streik und der Besetzung anschließen werden. Ob sie Angst vor Repressalien haben? Nein, eigentlich nicht, sagt Max, und wippt seinen Schuh, etwa Größe 45, auf den Zehen, bis er runterfällt. „Wenn alle mitmachen, dann kann uns nichts passieren“, zeigt er sich zuversichtich, von Repressalien und Strafen durch die Schulbehörden unbehelligt zu bleiben. Das Stadtschulamt sieht das anders. Alle gestern ausgefallenen Klassenarbeiten sollen mit „Null“ gewertet werden, was einer herkömmlichen „Sechs“ entspricht. „Das können die“, sagen die Schülervertreter, „nicht mit allen machen.“ Außerdem, weiß Sprecherin Kerstin, „konnten die Arbeiten gar nicht geschrieben werden - bei dem Lärm!“ Die Klausuren ihres Jahrgangs waren schon am Morgen verhindert worden. In der Aula der Schule herrschte nicht die von den Lehrern benötigte Mucksmäuschenstille, sondern ertönten Saxophone, Schlagzeug und Bongos. Der Protest ist laut, und er soll sich in den nächsten Wochen bis zur Ministerpräsidentenkonferenz der Länder am 11. und 12. Juni fortsetzen. „Aber er ist“, so Max, „gewaltfrei, alkoholfrei und beschädigungsfrei.“ Uneinigkeit herrscht über die Beteiligung der 5. und 6. Klassen an dem Streik, der von den 9. bis 12. Klassen in der Vollversammlung am Dienstag einstimmig beschlossen worden war. Einige sind dafür, auch die „Kleinen“ zu „befreien“, andere schließen sich den Gegenargumenten der Lehrer an. Eine 5. Klasse muß trotz Lärm lernen, andere dürfen gehen. Sie stehen auf der Dachterasse und kämpfen mit einem großen Transparent, das nicht richtig hängen will. Und sie tun, was sich von einer Dachterasse aus am besten tun läßt: Runterspucken.
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