Französische Schüler streiten um ihre Geschichte

■ In Frankreichs Schulen brechen die historischen Widersprüche auf / Schüler vergleichen 1987 mit 1930 Barbies Verteidiger Jaques Verges will die Franzosen in Lyon auf „die Kreuzung ihrer Widersprüche“ treiben

Aus Lyon Georg Blume

„Die Lyoner Bürger erinnern sich.“ Das Werbeplakat der rechten französischen Tageszeitung Figaro für die Berichterstattung zum Barbie–Prozeß klebt derzeit an jedem Zeitungskiosk der Rhone–Hauptstadt. „Klaus Barbie“ steht auf dem Plakat noch geschrieben, doch das Photo im Hintergrund zeigt nicht etwa den „Schlächter von Lyon“, sondern den französischen Resistanceführer Jean Moulin, der 1943 der Folter Barbies zum Opfer fiel. An was also soll sich Lyon erinnern? An die Verbrechen Barbies, an den Helden Moulin oder an den vermuteten Verrat Moulins an Barbie durch französische Kollaborateure? Barbies Verteidiger Jacques Verges erklärte am Donnerstag in einem Interview, daß der Prozeß in Lyon die Franzosen „an die Kreuzung ihrer Widersprüche führe“. Auch die Figaro–Reklame läßt Widersprüche offen. Widersprüche, die in der ersten Woche im Barbie–Prozeß zum Lyoner Alltagsgespräch wurden. Entgegen der üblichen Abriegelungspraxis an französischen Schulen bereitet es mir in diesen Tagen keine Schwierigkeiten, ein Gespräch in Sachen Barbie mit dem Abi–Geschichtskurs eines angesehenen Lyoner Gymnasiums zu bekommen, das den Namen „Jean Moulin“ trägt. Bereits im April hat Premierminister Chirac unter dem Eindruck des bevorstehenden Barbieprozesses in einem Schreiben an das französische Erziehungsministerium darum gebeten, an den Schulen in dieser Woche eine Sonderstunde zu der antisemitischen Politik der Kollaborationsregierung von Vichy abzuhalten. Im Jean–Moulin–Gymnasium kommt man aus Anlaß meiner Anwesenheit dem Ersuchen Chiracs gerne nach. Doch offensichtlich haben die Schüler keine Geschichtsnachhilfe nötig. In der Diskussion kommt man nur zu schnell zur Sache. „Frankreich will sich mit dem Prozeß ein gutes Gewissen verschaffen. Wir sollten heute besser Scham über die Kollaboration zeigen.“ Isabelle blockt die bloß historische Auseinandersetzung mit Barbie sofort ab. Unmittelbar tritt die gegenwartskritische Verteidi gungsstrategie von Jacques Verges in den Mittelpunkt des Gesprächs. Fast alle sind sich einig, daß nicht nur Barbie, sondern auch die französischen Kollaborateure vor Gericht stehen sollten. Und schon spricht ein junger Mann von Algerien: „Ist es nicht ebenso schrecklich, Menschen aus rassistischen Gründen zu töten, so wie es die Nazis taten, wie Menschen aus ökonomischen Gründen umzubringen, wie wir es in Algerien machten?“, fragt er. Hier muß sich Lehrer Parot zu Wort melden: „Niemals hat die Ideologie der französischen Republik einen Völkermord gewollt, so wie es die Nazis wollten.“ Und dann erzählt er seine Geschichte von Algerien, wie er sich dort als Soldat gegen Folter und Konzentrationslager eingesetzt habe. Parot diskutiert mit und genießt offenbar hohes Ansehen bei vielen Schülern. Doch allmählich reicht es den Rechtsradikalen, die auch in dieser Klasse zu finden sind: „Verges will die französische Armee beschmutzen. Es hat immer kleinere Völker gegeben, die vernichtet wurden. Wir sollten lieber vom Rassismus des Auslands gegenüber Frankreich sprechen!“ tönt es von einer der hinteren Bänke. Dafür oder dagegen, der Saal brüllt. Das Thema wechselt automatisch: Barbie und Le Pen, die gleiche Sache? „Le Pen ist harmlos, noch nicht mal rassistisch,“ meint Francois. „Wir dürfen nicht denken, daß heute schon 1940 wäre, wir sind eher im Jahr 1930“, lautet die Antwort ei ner jungen Frau. Und so geht die Diskussion weiter über die Mittagspause hinaus. Ein Lehrstück kontroverser französischer Geschichtsbewältigung. Sind sich die Franzosen „an der Kreuzung ihrer Widersprüche“ vielleicht der eigenen Geschichte kritischer bewußt, als man gemeinhin denkt? Innenminister Charles Pasqua rückt noch am selben Tag die Lyoner Eindrücke ins rechte, nationale Licht. Er spricht über seine Ausländer–Ausweisungspolitik, über das Charterflugzeug, mit dem er im vergangenen Herbst 101 Malier an Ketten gebunden ausfliegen ließ. „Ein Charter, sagen manche, ist zuviel“, philophisiert also der Minister. „Aber wenn ich morgen Züge schicken muß, werde ich es tun.“ Auch Barbie schickte Züge - Pasqua hat den Zeitpunkt seiner Äußerung genau kalkuliert - Barbie schickte sie nach Auschwitz. Natürlich löste die Äußerung Pasquas sofort entrüstete Proteststürme in der Öffentlichkeit und auch in der eigenen gaullistischen Regierungspartei aus, und doch kann sich der Innenminister eine solche Polemik leisten. Auch Le Pen fand vergangene Woche verführerische Worte für die Auseinandersetzung mit dem Prozeß: Barbie–Verges, das Gespann würde ihn an den Hitler–Stalin– Pakt erinnern. Er stehe auf der Seite der Franzosen.