Kohls Querschläger ins NATO–Konzept

■ Überraschend fordert der Kanzler eine Lösung für alle Atom–Raketen von null bis 1.000 km Reichweite / Aber: Weiterhin gegen „totale Null–Lösung für Europa“

Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - Zwei Tage vor den Landtagswahlen in Hamburg und Rheinland– Pfalz und unmittelbar nach Abschluß der NATO–Tagung in Norwegen hat Bundeskanzler Kohl am Freitag mit einer persönlichen Erklärung in die seit Wochen laufende Raketendebatte eingegriffen. Völlig überraschend selbst für Regierungsspre cher Schmülling (FDP) wurde ihm in die Regierungs–Pressekonferenz am Freitag nachmittag eine Erklärung Kohls hereingereicht, in der der Kanzler erstmals offiziell auch die Einbeziehung atomarer Kurzstreckenwaffen in die laufenden Verhandlungen fordert. Eine Regelung, so Kohl, die diese Waffen außer acht läßt, „bedroht vor allem unser Land“. Es müßten deshalb „Waffen aller Reichweiten zwischen null und 1.000 Kilometer einbezogen werden, mit dem Ziel einer tragfähigen Lösung, die die Sicherheit aller Beteiligten, vor allem auch der Deutschen erhöht“. Darüber hinaus wies Kohl noch einmal darauf hin, daß in diesem Zusammenhang auch verstärkt über die konventionelle Rüstung und über chemische Waffen verhandelt werden müsse. Nachdem sich Regierungssprecher Schmülling während der Pressekonferenz außerstande sah, die Erklärung Kohls zu interpretieren, schob Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble etwas später die amtliche Interpretation nach. Der Kanzler habe sich weder für die „totale Null–Lösung in Europa“ ausgesprochen noch die von der NATO am selben Tag mehrheitlich befürwortete Doppelte Null–Lösung definitiv abgelehnt. Kohl habe vielmehr auf den Zusammenhang aller Nuklearwaffen verweisen wollen. CDU– Fraktionssprecher Dregger wurde in der Interpretation der Kanzler–Worte noch etwas deutlicher: Die Union, so der Führer der Stahlhelmer, werde die auf der NATO–Tagung von den Amerikanern vorgeschlagene Aufrüstung im Bereich der Kurzstrekkenraketen als Ersatz für die Mittelstreckenwaffen entschieden ablehnen. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Es sei abwegig, die nuklearen Abschreckungswaffen abzubauen und die Kriegsführungswaffen, die Deutschland bedrohen aufzustocken. Genschers Auswärtiges Amt äußerte sich sehr verhalten zu Kohls Überraschungscoup. Man sei von dem Text vorher nicht informiert gewesen und werde ihn nun in Ruhe prüfen, äußerte ein Sprecher gegenüber der taz. Aus Kreisen der CDU–Fraktionsführung wurde gegenüber der taz noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Kanzler mit seinem Vorschlag keineswegs der „Denuklearisierung“ Europas das Wort rede. Nach Meinung der SPD hat der außenpolitische Wirrwar der Regierung mit Kohls Alleingang seinen bisherigen Höhepunkt erreicht. Horst Ehmke sprach von Panik und dem durchsichtigen Versuch, die jetzt mögliche Abrüstung durch das Draufsatteln neuer Forderungen doch noch zu verhindern. Sein Kollege Voigt forderte Außenminister Genscher auf, sich jetzt entweder durchzusetzen oder die Regierung zu verlassen. Die FDP schien vorwiegend irritiert. Während Fraktionschef Mischnick in Kohls Erklärung einen Schritt vorwärts sah, warnten andere FDPler vor der völligen Isolierung Bonns und einer neuen Nachrüstungsdebatte. Der Raketenexperte der Grünen, Mechtersheimer, entdeckte bei Kohl das Ziel Verwirrung zu stiften, da bei ihm nach wie vor der Wunsch durchschimmere, einen Teil der Mittelstreckenrakten zu behalten.