Unsittliche Debatten

■ Ein Reader zu „Frauen und Sexualmoral“ enthält Texte von der Jahrhundertwende bis heute / Selbstbestimmungsrecht der Frau, Abschaffung des § 218 – die Themen gleichen sich

Der Band mit dem nüchternen Titel: „Frauen und Sexualmoral“ sollte eigentlich schon vor Jahren erscheinen. Doch wie gut, daß nicht alles nach Plan lief und sich der Erscheinungstermin verzögerte. Das Buch wäre wohl sonst kaum zur Kenntnis genommen worden. Heute aber, wo der § 218 wieder verschärft wird, wo AIDS Männer und Frauen die Zunge löst und alle Welt unaufhörlich über Sexualität redet, kann das Buch dazu beitragen, mancher Debatte ein wenig Substanz zu verleihen und sie mit inhaltlichen und historischen Argumenten anreichern. Stellungnahmen von Frauen zum Thema Sexualität gibt es seit mehr als 100 Jahren. Als Gertrud Guillaume–Schack, die rote Gräfin, wie sie genannt wurde, 1882 in Darmstadt eine Rede hielt, in der sie die Praxis der staatlichen Reglementierung und Kasernierung der Prostitution angeprangert hatte, wurde ihr Vortrag von der Polizei abgebrochen. Aus der Sicht der kritisierten Männer war das verständlich. Gertrud Guillaume–Schack hatte das Problem auf den Punkt gebracht: „Wenn die Obrigkeit die Verpflichtung hat, gegen die Unsittlichkeit einzuschreiten, ... so darf sie doch nicht die betreffenden Frauen allein zur Verantwortung ziehen und den vielleicht hauptschuldigen Teil, den Mann, frei ausgehen lassen.“ Schon vor 100 Jahren schützte der Staat die Privilegien der Männer, nicht sie wurden bestraft, wenn sie eine nicht eingeschriebene Prostituierte aufsuchten, sondern die Frauen. Aus Angst vor Syphilis, wie damals argumentiert wurde, kontrollierte man die Frauen und überwachte ihren Gesundheitszustand. Die drastischen Worte der Frauen von damals erstaunen. So etwa nahm Johanna Elberskirchen, die sich nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften für die Sexualreform und das Frauenstimmrecht engagierte, kein Blatt vor den Mund, wenn sie die Sexualmoral der Sozialdemokraten kritisierte. „Ein großer Teil der sozialdemokratischen Männer steht in puncto Weib auf demselben niedrigen Niveau wie die priapisch (= unzüchtig) gesinnte antisoziale Majorität der Bourgeoisie“, schimpfte sie. „Die sexuelle Ausbeutung des Weibes ist genauso antisozialistisch wie die ökonomische des Arbeiters.“ Nicht nur die Worte der Frauen, auch die Reaktionen der Männer damals gleichen denen von heute. Zur Erinnerung: Als Waltraud Schoppe 1983 im Bundestag ihre Rede zum Thema Vergewaltigung in der Ehe hielt und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau forderte, quittierten das zahlreiche Abgeordnete mit Spott und Hohn. „Das ist doch Schwachsinn“, meinte einer der ehrwürdigen Volksvertreter. Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Frau ist übrigens nicht erst eine Erfindung von Feministinnen der siebziger Jahre. Helene Stöcker, radikale Bürgerin, Pazifistin und Sexualreformerin, stellte sie schon 1909 auf. Ebenso alt ist die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218. „Darüber besteht für mich kein Zweifel: Wenn Männer die Kinder zu gebären hätten - ein männlicher § 218 wäre nie geschaffen worden“, schreibt Camilla Jellinek, von 1900 bis 1933 Vorsitzende und Leiterin der Rechtsschutzkommission für Frauen in Heidelberg. Die Kämpferinnen von damals waren also nicht weniger klug oder weniger radikal als Frauen heute. Die Parallelen zur Gegenwart sind überraschend. Gleichwohl wäre es verkürzt und falsch, die Vergangenheit schematisch auf die Gegenwart zu applizieren. Dies wäre fatal, weil dann die aktuelle politische Lage nicht mehr genau analysiert würde. Dennoch ist es wichtig, die historischen Debatten zu kennen, nicht zuletzt auch, um aus Fehlern zu lernen. Einige der Frauen nämlich haben sich im Zuge der Auseinandersetzungen in die Defensive drängen lassen und ihre ursprünglich radikalen Forderungen relativiert. Eine eigene Protestbewegung der Frauen, die während der Weimarer Republik möglich gewesen wäre, konnte nicht entstehen, weil sich viele Engagierte parteipolitisch organisiert hatten und sich der Linie ihrer Partei fügten. Der von Marielouise Janssen– Jurreit herausgegebene und eingeleitete Band enthält neben historischen Quellen aus der Zeit von 1880 bis 1940 auch Texte aus der neuen Frauenbewegung, die die Debatten um die Sexualität seit 1970 dokumentieren. Texte und Reden von Alice Schwarzer, Ilse Kokula, Waltraud Schoppe und anderen zum Thema weibliche Sexualität, Prostitution und Gewalt gegen Frauen. Wer die Wurzeln der Geschichte und den Ursprung des Weiblichen nicht in den Sternen sucht, wird sich mit dem Buch umfassend informieren können. Denn, wie Waltraud Schoppe in ihrer legendären Bundestagsrede über den § 218 und fahrlässige Penetration meinte: „Man kann natürlich nur über das reden, wovon man wenigstens ein bißchen versteht.“ Heide Soltau Frauen und Sexualmoral. Herausgegeben und eingeleitet von Marielouise Janssen–Jurreit. Fischer–TB 3766. 14,80 DM.