Godard auf dem Weg zum Hörspiel

■ Godards King Lear enttäuschend / Letzte Wetten auf die Palme

„King Lear, a study“ lautet die Titelblende, am Ende des Festivals hat Cannon–Group einen Coup lanciert, Godards neuen Film. Was wir zu sehen kriegen, erweist sich allerdings als eine noch ganz unfertige, wackelige Arbeitskopie im englischen Original ohne Untertitel. Die erste Szene: Norman Mailer und seine Tochter, dann wieder eine Titelblende: „King Lear, an approach“. Eine Stadt am Meer. William Shakespeare jr. V. stapft durch die Landschaft und beobachtet die Beziehungen zwischen Mailer und Tochter, macht sich Notizen für seinen King Lear. So viel kann man jetzt schon sagen: Der Film ist eine Enttäuschung, vielleicht wie alle Filme von Godard. Sie habe kaum etwas von Shakespeares King Lear darin wiedergefunden, klagt eine Journalistin in der Pressekonferenz. Das sei einfach zu erklären, erwidert Godard, er habe das Stück nicht gelesen. Godard spielt die vierte Hauptrolle im Film, eine Art Gelehrten mit roter Pudelmütze, großer Sonnenbrille, an der links und rechts zwei Schlüsselanhänger befestigt sind, oder auch als Rastafari mit bunten Elektrokabeln im langen Haupthaar. Er spricht Englisch, aber immer nur aus den Mundwinkeln, wie Herbert Wehner, nur extremer, was ihn nicht leichter verständlich macht, und sagt Sätze wie: „Words are one thing and reality is another thing, and between them is no thing“, oder: „The image is a pure creation of sound“. King Lear ist ein Tonfilm, die Bilder schwimmen auf einem Meer von Geräuschen, Vogelstimmen, das Knistern eines Blatts Papier, so laut, daß man um seine Ohren fürchtet, Fetzen klassischer Musik, die durch technische Manipulation schnell in ein ganz tiefes Grunzen übergehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Godard zum Hörspiel übergeht. Heute, Dienstag abend um halb acht, werden die Preise verliehen. Die Gerüchteküche brodelt. Wetten werden entgegengenommen. Am höchsten gehandelt werden Tengiz Abuladzes „Pokayaniye“ (Die Reue), poetisch nicht uninteressant, politisch wertvoll, und, für mich unverständlich, Ettore Scolas „La Famiglia“, eine nostalgisch sentimentale Familiensaga, die hier gut angekommen ist. Mein eigener Favorit wäre Wenders „Himmel über Berlin“, aber ich sitze nicht in der Jury. Thierry Chervel PS.: Morgen in Erwartung der Preise ein Intermezzo über Fellinis Film „Intervista“.