: Kampfzeit für Heilige Krieger
■ Fastenmonat in der Türkei / Fanatische Moslems töten in der nordosttürkischen Stadt Van einen essenden Studenten / Regierung spielt Konflikt herunter / Weitere Fälle von Fastenterror bekannt
Aus Istanbul Ömer Seven
„Kämpfer des Islam“, mit Schlagstöcken und Messern bewaffnet, überfallen in einem Cafe in der nordosttürkischen Stadt Van teetrinkende Studenten. Der 17jährige Erstsemester Mehmet Shirin wird dabei ermordet, sieben weitere Studenten schwer verletzt. Das „Minicafe“, Ort des Geschehens, liegt dem Rektoratsgebäude genau gegenüber, die Polizeiwache ist 30 Meter davon entfernt. Als die rund 50 bewaffneten „Wächter des Islam“ die Studenten angreifen, wird die Polizei informiert. Nachdem alles vorbei ist, inspizieren zwei Polizisten den Toten und die Verletzten. Keine Festnahmen, dafür werden die Angegriffenen eingeschüchtert. Der Gouverneur von Van, Özdemir Hanoglu, wird anschließend in der Presse von Provokationen der linken Studenten sprechen: „Sie haben Kommilitonen Zigarettendunst ins Gesicht gehaucht und schmatzend gegessen.“ Präfektur, Polizei, Univerwaltung und reaktionäre Studentenorganisationen arbeiten in Van Hand in Hand. Seit einem Jahr stellt das Rektorat ausgewählte Politkader als Lehrbeauftragte ein, die eine Schlüsselrolle bei der ideologischen Anheizung spielen. So werden bei Klausuren Koransuren abgefragt. Zwei Tage vor dem Mord an dem Studenten erklärte der Lehrbeauftragte Hüseyin Celik in seiner Vorlesung den Studenten: „Selbst die Armenier haben in der Vergangenheit den Fastenden Respekt gezollt und nicht auf offener Straße gegessen. Die Gottlosen und Kommunisten heute sind weit schlimmer als die Armenier.“ Die Vorlesung des Lehrbeauftragten Mehmet Cevik am gleichen Tag wirkt wie eine Vorab–Legitimation für den Mord: „Kampftaten im Dienste der Religion sind in der Geschichte nie bereut worden.“ Es ist erst ein Jahr her, daß der ehemalige Rektor der Universität Van, Hakki Atun, auf einer Rektorenkonferenz in Istanbul auf Aktivitäten der islamisch–reaktionären Kräfte an der Universität Van öffentlich aufmerksam gemacht hatte. Nach Van zurückgekehrt, war er von Vertretern der Kriegsrechtskommandantur, der Polizei und der Präfektur in die Zange genommen worden und hatte sich daraufhin für seine Äußerungen in Istanbul entschuldigt. Kurz danach war er pensioniert worden, der neue Rektor hatte dann Gesinnungsgenossen als Lehrbeauftragte eingestellt. Erst nach starkem öffentlichem Aufruhr über den Mord an dem Studenten Tekin und der Veröffentlichung von erschreckendem Material über die Zustände an der Universität Van wurde in der vergangenen Woche ein Teil der Attentäter festgenommen und Disziplinarverfahren gegen Lehrkräfte eingeleitet. In einer parlamentarischen Debatte, die von der Opposition angestrengt worden war, hat die Regierung versucht, die Vorfälle herunterzuspielen. Nach Meinung des Innenministers Yildirim Akbulut ist es nur ein bedauernswerter Einzelfall. Während die Parlamentarier tagen, geht jedoch draußen im Land der Fastenterror weiter: In der Universität Ankara wurde ein nichtfastender Student krankenhausreif geschlagen, zwei Schülerinnen der Berufsschule Cebeci in Ankara schütteten Gift in den Tee einer Mitschülerin, die sich durch Nichtfasten des Glaubensverrats schuldig gemacht hatte, der Arbeitsimmigrant Mehmet Bulut, der in Erzincan seinen Urlaub verbrachte, wurde wegen Zigarettenrauchens auf offener Straße verprügelt, Schüler, die im Gymnasium der Kleinstadt Nusaybin dagegen protestierten, daß wegen Ramadan die Kantine geschlossen ist, wurden von Zivilpolizisten festgenommen. Die Umstände der Ermordung des Studenten Tekin in Van spiegeln das seit einigen Jahren veränderte geistige Klima an den türkischen Universitäten wider. Mit der Zerschlagung der Linken nach dem Militärputsch 1980 und den darauffolgenden Säuberungen ist an den Universitäten das Feld den fanatisch reaktionären Kräften überlassen worden. Der Fastenmonat Ramadan in der republikanischen Türkei, vor vierzig Jahren noch Zeit des konfliktlosen Nebeneinander von fastenden Gläubigen und Nichtfastenden, ist heute Kampfzeit der „Heiligen Krieger“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen