Das „Kleinere Übel“

■ Eine alte politische Formel für grüne Niederlagen

In Hamburg und auch in Rheinland–Pfalz haben die Grünen ihre erste dramatische Niederlage hinnehmen müssen. Nun sind die Fundis mit Erklärungen hervorgetreten, die stutzen lassen. Da wurde sofort nach der Wahl von Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann, Christian Schmidt und anderen gesagt, der Wähler hätte vor der Alternative Schwarz oder Rot gestanden und dann das „kleinere Übel“ gewählt. Die Behauptung klingt plausibel. Doch der Begriff „kleineres Übel“ hat eine Geschichte, die Ditfurth wahrscheinlich, aber Ebermann und Schmidt ganz sicher kennen. Vor dem „kleinere Übel“ warnte die bolschewisierte KPD angesichts des heraufziehenden Nationalsozialismus. Eine politische Annäherung zur SPD sollte mit dem Argument verhindert werden, daß sie gegenüber der NSdAP nur „das kleinere Übel“ sei. Folgerichtig wurde sie als Sozialfaschismus denunziert. Die Kommunistische Internationale hat nach dem Sieg des Faschismus diesen Begriff zwar zurückgezogen. Aber im Widerstand und selbst noch in den KZs wirkte diese terminologische Feinderklärung innerhalb der Arbeiterbewegung trennend weiter. Was bringt nun die Grünen dazu, ihn wieder aufleben zu lassen? Die letzte Wiederbelebung hatten vor mehr als zehn Jahren die ml–Sekten versucht, der die Hamburger GALier entstammen. Welche vergleichbare Realität beschwört aber heute der gleiche Begriff? Wird hier bewußt der schlechte alte Sprachgebrauch wieder aufgegriffen? Oder ist es der Schock der Niederlage oder die Unfähigkeit, die wirklichen Erklärungen auch zu formulieren? Nehmen wir an, daß es eher das Bewußtsein der heraufziehenden Niederlage ist, die zur Flucht in die dogmatische Abgrenzung verlockt. Schließlich hat die Linke hierzulande immer das eine krisenfeste Fundament, wenn die Desillusionierung alles wegzuschwemmen droht: der Anti–Sozialdemokratismus. Aber gerade das ist eine gute Vorbedingung, weniger in die ausgearbeitete Dogmatik, sondern in das Weltbild der ml– Gruppen zurückzurutschen. Eine Gefahr, die augenblicklich immerhin beachtet wird, da die Realos ihre Realität verloren haben und die Fundamentalisten ihren produktiven Affekt gegen alle Politik von oben, der ihre Position authentisch machte, immer mehr preisgeben. Dennoch sind die Grünen noch längst nicht so schwach, daß sie darauf verzichten müßten, das kleinste Übel der gegenwärtigen Politik zu spielen. Klaus Hartung