Atommacht BRD?

■ Die Union will Atomraketen für die Bundeswehr

Der Nebel über der Bonner Raketen–Debatte beginnt sich zu lichten. Aus dem wochenlangen Gerangel um Null– oder Doppel–Null–Lösung, um Abrüstung oder neuerliche Aufrüstung, um parallele oder abgestufte Verhandlungen über einzelne Waffensysteme beginnen sich die Konturen einer Lösung abzuzeichnen, die weit über das vermeintlich isolierbare Problem Mittelstreckenwaffen hinausgeht. Die Union, so der letzte Stand einer Diskussion, die vorwiegend hinter den Kulissen geführt wird, will die sowjetischen Vorschläge einer Doppelten Null–Lösung akzeptieren, wenn die 72 Pershing–1a–Raketen langfristig für die Bundeswehr erhalten bleiben. Diese Raketen, deren Trägersysteme zur Bundeswehr, deren atomare Sprengköpfe dagegen der US–Armee gehören, werden damit zum Dreh– und Angelpunkt der Strategen im Unionslager. Bereits zu Beginn der Auseinandersetzung machten Äußerungen führender Unionspolitiker deutlich, daß es ihnen weniger um die nackte Zahl der Raketen als um eine Neubestimmung der bundesdeutschen oder gar deutschen Rolle im Bündnis bzw. im Ost–West–Konflikt geht. Nicht von ungefähr hat CDU–Fraktionschef Dregger Genscher giftig daran erinnert, er sei schließlich der deutsche und nicht der amereikanische Außenminister. Was die Union im Fall einer möglichen Einigung zwischen den Supermächten tatsächlich bewegt, kam zum Vorschein, als scheinbar wie aus heiterem Himmel als Thema die deutsche Wiedervereinigung auftauchte. Wenn die Großen sich einigen, so die Alten Kameraden in der Union, sollen sie einen politischen Preis dafür zahlen. Das Projekt Wiedervereinigung hat allerdings einen kleinen Haken: Die Sowjetunion müßte sich damit anfreunden. Bislang gibt es niemanden, der auch nur einen plausiblen Grund nennen könnte, warum sie das tun sollte. Da ist das zweite Herzensanliegen der bundesdeutschen Großmachtpolitiker seit den fünfziger Jahren schon eher in absehbarer Zeit zu realisieren: der Zugriff auf atomare Vernichtungswaffen. Der denkbar einfachste Schritt dorthin wäre die formelle Übergabe amerikanischer Atomsprengköpfe der Pershing 1a an die Bundeswehr. Damit wäre der sowjetischen Forderung nach Abzug der amerikanischen Sprengköpfe Genüge getan und die Bundesrepublik eine Atommacht. Da dieser direkte Weg zur Zeit noch am Atomwaffensperrvertrag scheitert, ist vorerst nur eine europäische Lösung denkbar. Die gestrigen Pariser Gespräche dienten unter anderem auch der Klärung grundsätzlicher Positionen französischer Nuklearstrategie unter Berücksichtigung der Bonner Interessen. Warum soll man nicht amerikanische gegen französische Sprengköpfe austauschen und damit einen ersten konkreten Schritt in Richtung einer integrierten europäischen Atomstreitmacht tun? Mit dem jetzt möglichen ersten echten Abrüstungsschritt der USA schlägt die Stunde der europäischen Gaullisten. Lassen USA und UdSSR sich auf diese Option ein - und zumindestens in Washington scheint man nicht abgeneigt - würde die Abrüstung erneut zu einem Pyrrhus–Sieg. In der Bundesrepublik ist jedenfalls niemand in Sicht, der eine solche Entwicklung stoppen könnte. Jürgen Gottschlich