D O K U M E N T A T I O N „Wir müssen den Eisberg auftauen“

■ Auszüge aus der Rede von Carl Christian von Braunmühl anläßlich der Preisverleihung

Das, wofür wir hier gelobt worden sind, soll nicht in ein falsches Licht gerückt und nicht mit einem Heiligenschein umgeben werden. (...) Der Gustav–Heinemann–Bürgerpreis 1987 ist nicht an Terrorismusexperten und auch nicht an Menschen verliehen worden, bei denen sich anfragen ließe, worin politische Kultur besteht. Wir sind keine politischen Ratgeber und haben keinen Maßstab abzugeben. (...) Was wir wollen, ist etwas ganz anderes. Wir wollen weiter sagen - wie Menschen in haßerfüllter Anklage gegen diesen Staat und unter Berufung auf das Ziel menschlicherer Lebensverhältnisse unseren Bruder Gerold erschossen - wie wir sie angeredet und versucht haben, sie zur Rede zu stellen - und was uns bei diesem Versuch begegnet ist. Wir wollen das einfach weitersagen und über die Fragen, die sich daraus ergeben, weiterreden. (...) Warum wir das wollen? - Mein Bruder Hermann hat das in einem Brief an seine Freunde so ausgedrückt. „Die Tage seit dem Mord am 10. Oktober werden wir nie vergessen. Wir waren starr vor Entsetzen, wütend und zornig, immer wieder, aber dann vor allen Dingen traurig. Lange Stunden haben wir beieinander gesessen und geredet. Einfach geredet. Über Gerold. Was jeder von ihm wußte, welche Erinnerungen jeder an ihn hatte. Und schließlich versuchten wir zu begreifen, was denn eigentlich geschehen war. (...) Wir werden den Mördern nicht vermitteln können, was sie angerichtet haben. Aber wir können Gerold doch nicht ins Grab legen und einfach weiterleben! (...) Es muß sich etwas ändern! Was? Wir wissen das jetzt nicht. Aber wir haben das Bedürfnis, intensiv darüber nachzudenken. (...)“ Lieber Hermann - warscheinlich hattest Du recht - und wir haben den Mördern nicht vermitteln können, was sie angerichtet haben. Trotzdem, - sicher wissen wir das nicht. (...) Aber es gab neben dem Schmerz noch etwas anderes, was wir vermitteln wollten. Etwas weniger Privates, was sich auch eher mit Worten ausdrücken läßt. Ich meine: unsere Empörung über die Arroganz und den elitären Hochmut, der aus ihren Taten und aus jeder Zeile ihrer Texte spricht. Bei unserem Bruder und bei allen anderen Menschen, die sie ermordet haben, - es ist immer dieselbe blutige Avantgarde - Moral, die es ihnen erlaubt, dies zu tun - und auf die wir voll Empörung mit dem Finger weisen. Wir haben Selbstgerechtigkeit in ihrem schlimmsten Exzeß - als mörderische Selbstjustiz erlebt. Ich hoffe, wir werden sie auch in ihren unblutigen Erscheinungsformen - bei uns selbst und in unserem eigenen Lebensbereich wiedererkennen und nicht so schnell wieder vergessen. (...) Den Mördern haben wir gesagt: „Hört auf! Kommt zurück!“ Gibt es auch etwas, was wir uns selbst zu sagen haben? Damit die Mörder eher aufhören und zurückkommen können? Wenn es richtig ist, daß der Terror nur zusammen mit seinen Ursachen glaubwürdig und wirkungsvoll bekämpft werden kann, - dann ist es wichtig, sich selbst und die Gesellschaft, wie sie ist, nicht aus dem Blick und aus dem Spiel zu lassen. (...) Zunächst zum Umgang mit den Problemen: Ich habe nie jemanden sagen hören: Die RAF wird Erfolg haben. Ich habe dagegen viele sagen hören: Die tun wenigstens was. Könnte es vielleicht so sein, daß in einer Gesellschaft mit sehr bedrohlichen Problemen, in der eine erdrückende Mehrheit diese Probleme nicht sehen oder sich nicht aktiv mit ihnen auseinandersetzen will, - in der statt dessen die Nachfrage nach rosa Brillen und nach Betäubungsmitteln ständig wächst, - könnte es sein, daß sich in einer solchen Gesellschaft bei einer verschwindenden, sich erdrückt fühlenden Minderheit das unheimliche Gemisch aus elitärem moralischen Überlegenheitsanspruch, idealistischen Zielvorstellungen und einer mords–mäßigen Zerstörungswut besonders leicht zusammenbrauen kann? Ich weiß, daß Diffamierung der schlechteste Weg ist, um mit dem schwierigen Problem des Andersdenkens und Andershandelns fertig zu werden. Dies gilt auch für den öffentlichen Bereich. Zum Beispiel: Ich - hier spreche ich für mich persönlich -, bin gegen die neuen „Anti–Terror–Gesetze“. - Andere kennen sich da besser aus, aber auch ich habe mir eine Meinung gebildet und glaube, daß diese Gesetze 1) nicht nötig sind, um bessere Fahndungserfolge zu erzielen, und 2) daß sie genau den mühsamen Gesprächsversuch, der durch die heutige Preisverleihung ja gerade unterstützt werden soll, unglaublich erschweren und fast unmöglich machen. (...) Wir haben uns darauf geeinigt, die 20.000 DM, die wir heute hier erhalten haben, dem von dem Komitee für Grundrechte und Demokratie verwalteten Rechtshilfefonds für Peter Jürgen Boock zu geben. (...) Wir wollen dazu beitragen, daß das Verfahren weitergehen kann und hoffen, daß ein Urteil gefunden wird, das als ein Signal zur Versöhnung zu verstehen ist und zeigt, daß der Appell „Hört auf! Kommt zurück!“ nicht zynisch gemeint ist und auch ohne Selbstaufgabe befolgt werden kann. Lieber Jochen, Du hast mir vor einiger Zeit ein paar Notizen geschickt, die mir helfen sollten, mich auf diese Rede vorzubereiten. Sie haben mir auch geholfen. Besonders geholfen hat mir ein Bild, daß ich so, wie Du es mir geschrieben hast, vorlesen möchte: „Ein Bild zu der Frage, warum man Terrorismus nicht mit Gewalt ausmerzen kann. Die RAF ist wie die kleine Spitze eines großen Eisberges. Wenn man die Spitze kappt, kommt ein darunter liegender Teil über Wasser. In unserer Gesellschaft richtet sich vieles gegen den Menschen und gegen die Natur. Mehr und mehr Menschen sind unzufrieden und unglücklich. Wer eine Änderungen ermöglichende Auseinandersetzung erschwert oder verhindert, bringt einen Teil von uns dazu, sich in dem bewegten Wasser abzukapseln, buchstäblich zu erstarren. Wo liegt der Gefrierpunkt? Wir müssen den Eisberg auftauen, von unten. Wenn die Basis weggeschmolzen ist, verschwindet die Spitze über Wasser ganz von selbst. - Der Prozeß des Auftauens braucht Wärme. Haß ist kalt. (...)“