Die UdSSR im Bannkreis importierter Technik

■ Gorbatschows Perestroika bedeutet auch Anpassung an die westlichen Technologie–Trends / Es entsteht die Gefahr, eigene Entwicklungswege zu vernachlässigen

Aus Moskau Alice Meyer

„Rückständigkeit“ zwinge das sowjetische System zu einem Reformschub, lautet die gängige These, wenn die neue Politik Gorbatschows interpretiert werden soll. Joint Ventures, milliardenschwere „Nachrüstungsprogramme“ für sowjetische Atomkraftwerke und gemeinsame Entwicklungen mit der deutschen Atomwirtschaft, z.B. von Hochtemperaturreaktoren, zeigen an, daß es den Sowjets nun ernst ist: Mit Hilfe westlicher Technologie soll die Modernisierung der Wirtschaft forciert werden. Aber schon jetzt wird auch in der UdSSR die Frage aufgeworfen, welcher Grad der technologischen Abhängigkeit vom Westen noch verträglich ist. Die bisherige Handelspolitik, der Austausch von Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen gegen Maschinen, Ausrüstungen und andere „intelligente Technik“ hat Moskau nämlich nicht nur schwerste ökologische Schäden beschert, sondern auch ein Abfallen der eigenen Forschungs– und Entwicklungsbasis. Minister und Generaldirektoren finden es bequemer und attraktiver (wegen der Dienstreisen), gleich im Westen einzukaufen, so daß die „manpower“ der sowjetischen Konstruktionsingenieure mehr und mehr brachliegt. Ohnehin schlecht bezahlt und bei der Anwendung eigener Arbeitsergebnisse in der Industrie durch bürokratische Barrieren und Schikanen gehandicapt, flüchten sich die Technologen zunehmend in unverbindliche Grundlagenforschung. Gorbatschow will den sowjetischen Maschinenbau für den „Weltmarkt“ fit machen. Die Kreml–Führung fordert konkurrenzfähige Technik um jeden Preis - vor allem, seitdem die Hauptdevisenbringer (west–sibirisches Erdöl und Erdgas) schlechtere Preise erzielen. Damit wird der Anpassungsdruck an Technologie–, Design– und Modetrends im Westen, dem die sowjetische Industrie ausgesetzt ist, stärker als je zuvor. Fetisch Weltniveau „Gipnos sarubjeshnoi marki“ - die Hypnose des Auslandsfabrikats, so lautete kürzlich die Überschrift eines kritischen Beitrags in der Zeitung Sozialistitscheskaja Industrija über den verbreiteten Rückgriff sowjetischer Industrieressorts und Produktionsvereinigungen auf ausländische (meist ist gemeint: westliche) Technik auch in solchen Fällen, in denen eigene Forschungs– und Entwicklungsinstitute, Konstruktionsbüros usw. über mehr oder weniger gleichwertige Verfahrenslösungen, Ausrüstungen und Maschinen verfügen. Die „hypnotisierende“ Wirkung der Auslandserzeugnisse auf die sowjetischen Planer und Funktionäre reicht aber viel weiter als dem Verfasser des Beitrags vorzuschweben scheint. Die inländische Forschungs– und Entwicklungsarbeit im Maschinenbau ist schon heute weitgehend auf westliche Vorbilder (komplette Modelle, Konstruktionsprinzipien, Normen und Standards) ausgerichtet. Typisches Beispiel: die Automobilindustrie. Die frühere Praxis, im Konstruktions–, Modell– und Sortimentsbereich selbstän dige Lösungen anzubieten - schon wegen der Spezifika des Binnenmarktes (schlechte Straßenverhältnisse, rückständiges Reparatur– und Servicenetz, teilweise extreme klimatische Verhältnisse) -, wird längst als technologische Eigenbrötlerei verworfen. Unterstützt von üppigen Importmittel–Zuweisungen, wurde der Weg blinder Übernahme und Nachahmung der Modellpolitik westlicher Automobilkonzerne beschritten. Jeder neue Pkw, der heute in Togliattigrad oder Moskau vom Band läuft, stellt im Grunde genommen ein Westfabrikat dar, das mit Hilfe teurer Lizenzen sowie ausländischer Karosserie–Designer und Konstrukteure von Vorbildern der großen Auto–Konzerne Westdeutschlands, Italiens und Frank reichs „abgekupfert“ ist. Die Konkurrenzfähigkeit der Vehikel auf Westmärkten wird allerdings dadurch beeinträchtigt, daß in der UdSSR die „technologische Disziplin“ in der Fertigung etwas weniger streng und die Qualitätskontrollen weniger scharf sind, und weil man bisher nicht alle „Produktinnovationen“ schnell genug nachvollzogen hat. Das gilt zum Beispiel für die Vergaser–Technologie: Im Kraftstoff–Verbrauch sind sowjetische Pkw Spitze. Aber man will Abhilfe schaffen. Im Plan–Jahrfünft 1986–90 stehen für Westimporte von Ausrüstungen, Lizenzen usw. für die Automobilindustrie Valuta–Mittel in Höhe von einer Milliarde Rubel zur Verfügung, 1981–85 waren es „nur“ 800 Millionen Rubel. In der UdSSR wird also - ähnlich wie dies in anderen osteuropäischen Ländern bereits der Fall ist - die „Weltmarktfähigkeit“ der inländischen Erzeugnisse zum Fetisch. Ohne Rücksicht auf die volkswirtschaftlichen Kosten soll möglichst vielen Maschinen, Apparaten und Fahrzeugen der Weg auf die internationalen Märkte geebnet werden. Angepaßte Technologien Wer auf naturgeographische und historische Sonder–Bedingungen der Sowjetunion für Technologien und Konstruktionslösungen verweist, wird selbst zum Sonderling abgestempelt. Die Kehrseite dieser Verehrung westlicher Technik ist die, daß es in der Sowjetunion bislang weitgehend versäumt wurde, die Konstruktion und Serienfertigung einer Spezialtechnik für Sibirien voranzutreiben: Maschinen und Anlagen mit „HL–Index“, die für Einsätze in Niedrigtemperatur–Regionen ausgelegt sind, werden vom sowjetischen Maschinenbau fast durchweg in mangelhafter Qualität, unzureichendem Sortiment und viel zu geringen Produktionszahlen gerechtfertigt. Nach Schätzungen von Fachleuten der sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR betragen die volkswirtschaftlichen Verluste, die aus der Anwendung von nicht oder nur mangelhaft an extreme klimatische Bedingungen angepaßter Technik der Sowjetökonomie erwachsen, rund zwei Milliarden Rubel pro Jahr. Gegenwärtig soll in der Sowjetunion sogar überhaupt nur ein Herstellerwerk des Maschinenbaus auf die Produktion speziell für Sibirien ausgelegter Technik ausgerichtet sein: Das Werk für schwere Bagger in Krasnojarsk. „Unsere Erzeugnisse stehen ausländischen vergleichbaren Produkten nicht nach, und in einigen Fällen übertreffen sie sie sogar.“ Diese und ähnlich häufig anzutreffenden Formulierungen stellvertretender Industrieminister, die Erfolgsbilanzen abgeschlossener Investitions– und Modernisierungsvorhaben in ihrem Ressort feiern, sagen letztendlich nichts anderes, als daß das Westprodukt - die in bürgerlich–kapitalistischen Gesellschaften produzierte Ware - nicht nur als das entscheidende, überall gebräuchliche Vergleichskriterium dient für die Einschätzung des Gebrauchswertes des Ostproduktes - der in sog. sozialistischen Gesellschaften produzierten Ware -, sondern auch Vorbild–Funktion hat.