Ein zentrales Theaterstück am Rande Lyons

■ „Die Ermittlung“, vor 22 Jahren von Peter Weiss geschrieben, erlebte eine unspektakuläre und von der üblichen Premieren–Prominenz verschonte Neuinszenierung in einem Arbeitervorort Lyons / Engagierte Zuschauer diskutierten die aktuellen Bezüge zum Barbie–Prozeß

Aus Lyon Lothar Baier

1965 war das Jahr, in dem der Bundestag in Bonn mit knapper Mehrheit die Verlängerung der Verjährungsfrist für Naziverbrechen beschloß. Im Jahr 1965 ging der große Frankfurter Auschwitzprozeß zu Ende. Ebenfalls 1965 wurde Peter Weiss Theaterstück „Die Ermittlung“ uraufgeführt, das Aussagen von Zeugen und Angeklagten des Frankfurter Prozesses gegen den Adjutanten des Lagerkommandanten Mulka und andere in einer strenggebauten Szenenfolge zusammenfaßt. Das „Auschwitz–Oratorium“, wie das Stück bald genannt wurde, löste damals eine politische und zugleich ästhetische Diskussion aus, von deren Heftigkeit man sich heute kaum mehr eine Vorstellung machen kann. Es wurde sogleich auch zum deutsch–deutschen Zankapfel: In West–Berlin in der Volksbühne inszeniert, stellte Ostberlin seine Volkskammer zur Verfügung. Die DDR unterstrich ihren antifaschistischen Geist dadurch, daß prominente SED–Politiker mit KZ–Vergangenheit in der „Ermittlung“ die Rolle der Zeugen übernahmen. Im Westen war man sich nicht einig, ob Auschwitz überhaupt ein Thema für das Theater sei. Die Debatte über die Ästhetik des Horrors führte allerdings dazu, daß mehr und mehr von der Realität des Horrors die Rede war. Das Theater wurde mit der „Ermittlung“ zur moralisch– politischen Anstalt. Mehr als 20 Jahre später ist „Die Ermittlung“ nun wieder auf der Bühne zu sehen, in Venissieux, einem Industrievorort im Südosten Lyons. Die Theatergruppe macht keinen Hehl daraus, daß es diese Neuinszenierung ohne den Prozeß gegen Klaus Barbie 21 Jahre nach der Erstaufführung im Theater von Aubervilliers bei Paris nicht gegeben hätte. Die Zeiten, da Peter Weiss auch in Frankreich ein geschätzter Autor politischer Stücke war, sind vorbei: nicht zuletzt daran abzulesen, daß der Übersetzer der „Ermittlung“, Jean Baudrillard, sich heute als Theoretiker der Postmoderne betätigt. Der Besucher der Aufführung reist in mehrfacher Hinsicht in die Vergangenheit zurück: in die Auschwitzvergangenheit und in die Vergangenheit des Prozesses. Auch das Theater, in dem gespielt wird, entstammt einer anderen Zeit: Es ist das „Maison du Peuple“, das Volkshaus, eine Hinterlassenschaft der Volksfrontzeit und ihrer verblichenen Hoffnungen. Für die Truppe des Regis seurs Bruno Carlucci ist dieses Volkshaus allerdings nur ein Ausweichquartier: Sie hätte lieber mitten in der Stadt gespielt, in der Nähe des Gerichts, in dem authentische Zeugen von der Deportation berichten, die sie überlebten. Sie fand aber keinen geeigneten Saal und auch die Gelder, die ihnen die Stadt Lyon und ein Konsortium wohlmeinender Politiker versprochen hatten, sind ausgeblieben. Es war der Bürgermeister der kommunistisch regierten Arbeitergemeinde Venissieus, der das Haus schließlich zur Verfügung stellte. Es macht seinem Namen alle Ehre an diesem Montag abend. Kein Premierenpublikum, wie es sonst zu erwarten wäre, wenn bekannte Theater– und Filmschauspieler auftreten. Von der Prominenz, die die Aufführung mit ihren Namen ideell unterstützt - vom ehemaligen Premierminister Raymond Barre bis zum ehemaligen Verteidigungsminister Charles Hernu - , ist niemand zu sehen, dafür sind viele Jugendliche da, denen noch zahlreiche Schulklassen folgen werden. Die Schauspieler haben sich aus Interesse an der Sache zu der Truppe zusammengeschlosssen, die „Die Ermittlung“ auf die undekorierte Bühne bringt, und etwas von ihrem Engagement überträgt sich auch auf die Zuschauer. Kein Beifall nach dem Ende der zweieinhalbstündigen Aufführung, sosehr hat der Stoff seine Darbietung überwältigt. Erst draußen im Foyer lösen sich die Zungen, bilden sich heftig diskutierende Gruppen. Peter Weiss vor 22 Jahren geschriebenes Stück trifft den Kern der Debatte, die den Prozeß gegen Klaus Barbie begleitet: Worin sich Verbrechen, wie sie das Militär der Kolonialmacht Frankreich in Algerien beging, von der Monströsität der nationalsozialistischen „Endlösung“ unterscheiden. Monströs nicht nur in ihrer Dimension, sondern auch in den Verfahren, die Opfer selbst zu Komplizen ihrer Erniedrigung und Vernichtung zu machen. Für dieses Verbrechen an der Menschheit, diese Botschaft wird der „Ermittlung“ mit ihren elf Gesängen aus dem Inferno Auschwitz entnommen, gibt es in der Geschichte keine Parallele. Vielleicht gibt es aber auch keine Sühne, für die das Strafrecht eine Sprache hat.