G A S T K O M M E N T A R Schulfreiheit für wen?

■ Am Mittwoch wurde in Wiesbaden das hessische „Schulfreiheitsgesetz“ beschlossen

In Wiesbaden hat die neue konservative Mehrheit ein Schulgesetz beschlossen, das sich zu Unrecht mit dem schönen Namen „Schulfreiheitsgesetz“ schmückt, denn es stoppt den schulreformerischen Versuch der letzten drei Jahrzehnte, möglichst viele Kinder unterschiedlicher Herkunft möglichst lange gemeinsam zu fördern. Das ist der Grundgedanke jeder sinnvollen Gesamtschulreform gewesen. Man muß sich allerdings fragen, warum ein auf Chancengleichheit zielendes schulpolitisches Konzept der SPD, das ohne die Bildungskampagnen der außerparlamentarischen Protestbewegung der sechziger Jahre nicht hätte verwirklicht werden können, ein Konzept, dem auch ein Gutteil heutiger CDU– und FDP–Wähler aus ländlichen Gegenden und Arbeiterfamilien ihren Bildungsaufstieg verdanken, nicht mehr mehrheitsfähig ist. Dabei spielt eine Rolle: Trotz vieler ermutigender Beispiele ist vieles an der Schulreform in leb– und lieblosen, verbürokratisierten Schulstrukturen steckengeblieben, nicht zuletzt, weil die engagierte und kreative neue Lehrergeneration von Berufsverbot und Disziplinierungsmaßnahmen nicht zu unterschätzenden Ausmaßes kalt erwischt wurde. Die Schulreform hielt nicht, was sie versprochen hatte. Der Ärger und die Enttäuschung darüber wurden geschickt von den CDU–gestützten hessischen Elternvereinen angeheizt, sie machten sich auch in den Wahlen Luft. Die Konservativen nutzten die kollektive Desillusionierung der von der Bildungsreform geprellten Generationen, die sich nun in Anbetracht einer strukturellen Dequalifizierung (“Mehr Bildung, aber nicht bessere Bildung für alle“), die Pierre Bourdieu scharfsichtig festgestellt hat, mit dem Gedanken vertraut machen müssen, für ihre Bildungstitel weniger zu erhalten als ihre Vorgänger–Generation. Mit dem jetzt beschlossenen ersten Schritt zurück zum dreigliedrigen Schulsystem - gewissermaßen eine reaktionäre bildungspolitische Aufwertung - hoffen die alten und neuen Schichten der Begüterten und Begünstigten im Verbund mit den neuen Aufsteigern den Bildungsfahrstuhl für ihre Kinder zu reservieren. Da wird es ein böses Erwachen geben. Das feine Gymnasium, sollte es je wieder herstellbar sein, ist eben grundsätzlich nicht für alle da. Die heiß erstrebten Bildungstitel, ohne die auch ein mittlerer sozialer Status nicht zu erreichen ist, sind gebunden an das ungleich verteilte familiäre Bildungskapital. Hier müßten neue, freie Schulen, von denen es noch viel zu wenige gibt, ansetzen, sich mit sozial engagierten und gebildeten Lehrern in überschaubaren und anregenden Schulen für ein Miteinanderlernen begünstigter und benachteiligter Kinder einzusetzen, eine Schule zu schaffen, die Elias Canettis Worte bestätigte: „Es ist wunderbar zu studieren, nämlich Namen und Dinge aufzunehmen und zu bedenken, die man noch nicht bedacht hat; sich zu sagen, was einem an ihnen auffällt; was man sich von ihnen merken möchte; es im großen, absichtslosen Schatz der eigenen Erfahrungen zu verzeichnen.“ Reinhard Wolff (Professor für Pädagogik in Berlin)