„Die müssen sich ja gegenseitig stützen“

■ Das Mißtrauen gegenüber Gorbatschows Reformkurs ist in der DDR ungebrochen / Die Ost–Berliner Führung ist sich ihrer Rolle als ökonomischer Stütze des Ostblocks sehr bewußt und hält sich in der Berichterstattung zurück

Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Als Michail Gorbatschow die Treppen zum Schauspielhaus in Ost–Berlin hinaufstieg, änderte sich trotz des tosenden Beifalls sein Gesichtsausdruck. Das gekonnt breite Public– Relation–Lachen wich einem ernsten und etwas resignierten Zug. Eben noch hatte er das Bad in der etwa dreitausendköpfigen Menge gesucht, die sich am Donnerstagabend einfand und ihn zusammen mit Frau Raissa freundlich begrüßte. Doch gezielt schüttelte er die Hände der in Gruppen auftretenden Claqueure, die mit ihren „Hoch“–Rufen für die ortsübliche Atmosphäre sorgen sollten. Daß Gorbatschow aber solch programmierte Stimmungsmache nicht besonders mag, hatte er zuletzt in Prag gezeigt, wo sowjetische Sicherheitsbeamte die bestallten Hochrufer ziemlich rüde zum Schweigen brachten. Was aber veranlasste ihn dazu, gerade hier in Ost–Berlin auf diese Leute zuzugehen? Ist es ein Zeichen dafür, daß Gorbatschow in den sozialistischen Ländern inzwischen ein schärferer Wind entgegenbläst? Oder ist es nur die Rücksicht auf die Gastgeber, die seit Monaten keinen Hehl aus dem Mißtrauen gegenüber dem Moskauer Kurs machen. Erst am Eröffnungstag der Tagung des Warschauer Pakts erwähnten die Zeitungen das Ereignis auf dem Titelblatt. Und mit dem Stolz von Einser–Schülern hatte man darauf hingewiesen, daß die Antriebskräfte der Reform in der Sowjetunion hier nicht gültig seien. Schließlich habe man die Umsetzung technisch–wissenschaftlichen Fortschritts in die Produktion schon längst angepackt, die jetzt erst in der Sowjetunion zum Tragen kommen soll. Wenn ein Verbündeter so treu zur Sowjetunion steht und vor allem die Hausaufgaben im Fach Ökonomie so erfolgreich abgeschlossen hat wie die DDR, dann geziehmt es sich wohl auch nicht für den Generalssekretär der östlichen Supermacht, die Stützen und die „bewährten Methoden“ der gesellschaftlichen Organisation hierzulande zu kritisieren. Die Geste des Generalsekretärs den Claqueuren gegenüber mag so die Stützen des Systems etwas versöhnen. „In Rumänien ist es schon nicht so gelaufen, wie es eigentlich sollte“, schätzt ein sowjetischer Journalist die Bemühungen Gor batschows ein, die „Bruderstaaten“ für seine Ideen und Neuerungen zu gewinnen. Sein gerade im Ceausescu Staat ausgesprochener Appell für einen „Weg der Demokratisierung“ und der „Beseitigung bürokratischer Hemmnisse“, für „reale Garantien zum Schutz der legitimen Rechte und Interessen“ des Individuums blieb dort ohne Wirkung, auch wenn sich Ceausescu verbal die Unterstützung des sowjetischen Kurses abquälte. „Was bei der Tagung hier rauskommt, wird sich nicht nur auf die Rüstungspolitik beziehen, die Frage ist doch eigentlich, wie geht es im gesamten Lager weiter“, analysiert ein tschechischer Journalist die Situation. Der Blick auf die vor dem Schauspielhaus vorbeidefilierenden Delegationen aus den Bruderländern unter der Führung von Parteichefs wie Janos Kadar, Wojciech Jaruszelski, Todor Schiwkow, Gustav Husak, Nicolae Ceausescu und natürlich die DDR–Garde unter Erich Honecker ist da wenig verheißungsvoll. In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters der Führungsgarde des Warschauer Paktes stimmten auch die Linientreuen unter den Umstehenden in ein Lachen ein, als jemand „die müssen sich ja gegenseitig stützen“ rief. „Ob Gorbatschow eine Stütze für unser Anliegen sein kann, muß sich erst noch heraustellen“. So richtig wollen es die Leute aus der Friedensbewegung der DDR noch nicht glauben, daß der Wandel in der Sowjetunion auch sie erreichen könnte. Daß die Staatsmacht jetzt schon anfängt, sowjetische Filme angeblich wegen minderer künstlerischer Qualität zurückzuhalten, ist dabei für manche eher ein Beweis für die Glaubwürdigkeit des sowjetischen Generalsekretärs als so manche schöne Rede. Doch auch die sind heiß begehrt. Die „Prawda“ ist in Ost– Berlin nun ausverkauft, einige haben eine Abonnement. Die von der sowjetischen Presseagentur Nowosti verbreiteten Reden Gorbatschows werden gelesen weitergereicht, weil die sowjetischen Stellen den Bedarf nicht decken können. „Ich fürchte nur, daß die Reform vor allem technokratisch gedacht ist,“ meint einer der Gesprächspartner, der, des russischen mächtig, die Quellen sorgfältig studiert. „Wir wollen ja eine Demokratisierung, die auch mehr an Selbstbestimmung bringt und nicht nur eine neue Wachstumsideologie enthält.“ Doch erregend sei der Prozess in der Sowjetunion allemal. Und wie kann der eigene Staat ernsthaft gegen Leute vorgehen, die auch Forderungen des sowjetischen Generalsekretärs im Munde führen? Daß die DDR–Führung verunsichert ist, wie sie sich gegenüber den Leuten aus der unabhängigen Friedensbewegung verhalten soll, wurde erst vor vier Wochen besonders deutlich, als 17 Personen versuchten, in die CSSR - dem einzigen Land, zu dem die DDR– Bürger kein Visum brauchen - zu fliegen. Sie wurden daran gehindert. Nicht verhindern konnte die Führung allerdings, daß manche intellektuellen und künstlerischen Aushängeschilder der DDR, wie der über 90jährige Papst der DDR–Ökonomie, Professor Jürgen Kuczynski oder die Chansonsängerin Gisela Mai nun Frühlingsluft schnuppern. Daß Kuczynski in Gorbatschow die „Sternstunde seines Lebens sieht“ und die Sängerin öffentlich die sowjetische Kulturpolitik bewundert, kann nicht rückgängig gemacht werden. Das „Neue Denken“ aus Moskau hat nun jedenfalls auch die DDR erreicht. Die Geste Gorbatschows gegenüber den Claqueuren jedenfalls dürfte nicht ausreichen, die alte Garde zu beruhigen.