Rust flog - und dann der Verteidigungsminister

■ Moskauer Bürger reagieren gelassen auf die Landung des bundesdeutschen Sportfliegers im Herzen ihrer Hauptstadt und fühlen sich nicht bedroht / Prawda verschweigt den Roten Platz als Landebahn / Rätselraten um die Motive des Westdeutschen

Aus Moskau Alice Meyer

Sowjetbürger, auf den tollkühnen Flieger angesprochen, reagieren eher gelassen. Man sieht diesen Zwischenfall nicht so sehr als Exempel einer immer noch unkalkulierbaren militärischen Bedrohung des Sowjetreichs und seiner Hauptstadt, sondern eher als Ausdruck von Abenteuertum. Ob die Motive des Matthias Rust politischer Art waren oder bloß einer Publicity–Sucht entsprangen, vielleicht auch einfach aus dem verrückten Streben, auf diesem Wege ins Guinness–Buch der Rekorde Eingang zu finden, zu erklären sind - darüber wird in Moskau unter Sowjetmenschen wie unter Ausländern gerätselt. Die Tatsache, daß die Landung der Cessna–172 auf dem Roten Platz eine ungeheure Kränkung der Sowjetmacht darstellt, fand im Volk schon deshalb bisher keinen Widerhall, weil sich die Medien - die Nachrichtensendung Wremja und das Parteizentralorgan Prawda zum Beispiel - bisher nicht entschließen konnten, das Sowjetpublikum darüber zu informieren, daß der Flieger unmittelbar am Kreml eingeschwebt war. Man erfuhr bloß, daß der Westdeutsche „in Moskau“ gelandet war. Auch die inzwischen bekanntgewordenen personellen Konsequenzen trafen daher - wie so oft bei Umbesetzungen in der Moskauer Führung - ein ziemlich ahnungsloses und unvorbereitetes Publikum. Schon einen Tag nach dem Flugabenteuer, am 30. Mai, wurde Verteidigungsminister Sokolov auf Anweisung des Politbüros durch das Präsidium des Obersten Sowjet in Pension geschickt und durch den Armeegeneral Dmitrij Timofjejewitsch Jasow ersetzt, ferner der Oberkommandiereende der Luftabwehr–Streitkräfte, Koldunow, aus dem Amt gejagt. Neben diesen Neuigkeiten er fuhren die Leser der Prawda und anderer zentraler Zeitungen am Sonntag, daß sich das Politbüro auf einer offenbar eilends anberaumten Sitzung über die „sträfliche Sorglosigkeit und Unentschlossenheit“ der militärischen Luftabwehr erzürnte, die dem Flug des Luftraumverletzers kein Ende bereitete, ohne „Kampfmittel“ anzuwenden. Angeblich seien Abfangjäger aufgestiegen, nachdem man die Cessna–172 mit „radioelektronischen Ortungsmitteln“ vor der Küste Estlands beim Anflug an die Staatsgrenze der UdSSR ausgemacht hatte. Die Jagdflugzeuge sollen die Sportmaschine zweimal angeflogen oder umflogen haben. Das oberste Führungsgremium im Machtapparat der Sowjetunion kritisierte „ernste Mängel“ in der Organisation des militärischen Luftraumüberwachungs–Bereitschaftsdienstes, fehlende Wachsamkeit und Disziplin sowie Führungsschwäche der Verantwortlichen im Verteidigungsministerium. Die „ständige Fähigkeit der Streitkräfte zur Vereitelung jedweder Anschläge auf die Souveränität des sowjetischen Staates“ soll künftig besser gewährleistet werden. Zweifellos eine Warnung an die Adresse möglicher Nachahmer. Mit den näheren Umständen der Luftraumverletzung befaßt sich nun u.a. auch die sowjetische Staatsanwaltschaft. Ermittelt wird gegen sowjetische Dienststellenleiter und gegen Bürger Rust der Bundesrepublik Deutschland. Wie aus der Botschaft der BRD mitgeteilt wurde, hat das sowjetische Außenministerium die Diplomaten darüber informiert, daß ihnen nach Abschluß der Untersuchungen „Anfang der Woche“ ein Gespräch mit Matthias Rust ermöglicht werde.