P O R T R A I T Ein Musterschüler, kein Hasardeur

■ Mathias Rust, der Junge, der mit seiner Cessna auf dem Roten Platz in Moskau landete

Hamburg (taz) - Die Rusts aus Wedel, der Kleinstadt westlich von Hamburg, sind ordentliche Leute, ruhige Bewohner eines Reihenhauses aus rotem Klinker. „Der Kerl, der den Sowjetstaat durcheinandergewirbelt hat, kommt aus einem roten Haus“, meint ein Witzbold unter den Reportern, die seit Freitag mittag auf dem englischen Rasen lungern, in der Hoffnung, etwas Spektakuläres aus der Rustschen Intimspähre zu ergattern. Pech für sie, es bestätigt sich in jeder Äußerung von Nachbarn, Freunden, der Familie selbst: Mathias Rust ist ein Junge von erschreckender Durchschnittlichkeit - zumindest gewesen. Der 19jährige sieht auf Fotos aus wie der Bankangestellte, der er auch fast geworden wäre. Nach dem Realschulabschluß fing er eine Banklehre an, die er bald wieder abbrach, um als Datenverarbeiter das Geld für seine große Leidenschaft - das Fliegen - zu verdienen. Im Herbst letzten Jahres machte der Sohn eines nicht gerade begüterten Ingenieurs seinen Privatpiloten–Schein. Berufspilot wollte Mathias unbedingt werden, erzählt sein jüngerer Bruder Ingo. Die dafür notwendige Flugstundenzahl wollte er jetzt auf einem Skandinavienflug sammeln. „Besessen vom Fliegen“ sei der Sohn, sagt die Mutter, nicht ohne Stolz, habe nie etwas mit Mädchen im Sinn gehabt. Sie will nicht glauben, daß der Junge auf seiner Tour eine Frau mitgehabt haben soll. Voller Stolz auch der ehemalige Fluglehrer beim Aeroclub Hamburg. Die gelungene Landung auf dem Roten Platz spricht für seine solide Ausbildung. Ein Hasardeur sei ihr jetzt prominentestes Mitglied nicht, beteuern Fliegerkollegen und Fluglehrer unisono, wie ein Musterschüler - der er auch gewesen sei - würde Mathias wirken, seine Vorbereitungen auf den Flug seien von buchhalterischer Genauigkeit gewesen. Schlafsack, Isoliermatte, Wäscheklammern, Thermosflasche, Landkarten, Überlebens–Streichhölzer, Schwimmweste, Equipment für jeden Eventualfall habe er sich besorgt und mit peinlicher Sorgfalt in der Maschine verstaut. Die vorgesehene Flugroute habe er zu Hause am Heimcomputer berechnet, habe sich auch Rat im Tower des Hamburger Flughafens Fuhlsbütttel eingeholt. Mathias Rust hat - das bestätigen alle, die ihn kennen - nichts dem Zufall überlassen. Ein Irrtum bei der Navigation als Grund für die risikoreiche Moskaufahrt sei ausgeschlossen, meint der Fluglehrer. Es habe ja auch freie Sicht bestanden, ein Hochdruckgebiet über Skandinavien habe optimales Flugwetter gebracht. Wollte der nette junge Mann eine politische Demonstration veranstalten, den Gorbatschow–Staat vorführen? „Ausgeschlossen“, sagen die Eltern allen Reportern, die Heldengeschichten wittern. Und geheimnisvoll fügt die Mutter hinzu: „Wir glauben, daß Mathias gezwungen wurde ...“ Präziseres können sie jetzt nicht sagen. Michael Berger