Eine zartblaue Tapete für die Berliner Mauer

■ Mit einer ungewöhnlichen Aktion entledigten sich Berliner Boykottgruppen ihrer Volkszählungsbögen / Mit Tapetenkleister wurde das Altpapier an die Mauer geklebt / Die Polizei konnte nicht eingreifen, da die Mauer DDR–Territorium ist

Aus Berlin Brigitte Fehrle

„Behindern Se nich den grenzüberschreitenden Verkehr.“ Ein barscher DDR–Grenzposten am Übergang Checkpoint Charlie in der Berliner Friedrichstraße plärrt im gewohnten Amtston Anweisungen in sein Megaphon. „Wat denn, Grenzüberschreitung? Ham wer nüscht gegen, sind wir doch auch für“, ruft ihm unter Beifall und Gejohle von etwa 200 Leuten eine junge Frau mit Kleister–verschmierten Händen zu. Humoristische Szenen des deutsch–deutschen Verhältnisses, wie sie sich nur an der Berliner Mauer abspielen können, begleiteten am Samstag nachmittag eine Volkszählungsaktion der Berliner Boykottgruppen. Am Samstag nachmittag strömten aus allen Teilen der Stadt Menschen mit Plastiktüten und Kleistereimern auf den Potsdamer Platz. „Wir tapezieren die Mauer mit Altpapier“ hieß die Aktion, bei der die Inis ihre mehr als 80.000 bislang gesammelten Volkszählungsbögen entsorgen wollten. Am Potsdamer Platz begann die Kleisterkarawane ihren Zug. Meter um Meter wurden die bunten Graffitis der Mauer mit den hellblau–schimmernden Papierbögen beklebt. In Windeseile, vorbei an den Souvenirbuden und unter neugierigen Touristenblicken, schob sich der klebrige Zug vorwärts, ein Stück entlang an den eisernen Stelzen der neuen, nie fertigwerdenden Magnetbahn, dann in der Nachbarschaft der illegalen, doch seit Jahren geduldeten Bau– und Wohnwagensiedlung, deren Bewohner die Aktion mit lauter Musik (und dem über Mikrofon verbreiteten Wunsch, man möge nicht so viel von ihrem bißchen Grün zertrampeln), begleiteten. Weiter unter Bäumen am schmalen Mauerweg entlang, klebte Bogen an Bogen, mal dicht, so daß fast kein Beton mehr zu sehen war, mal zum Wort Boykott geformt oder als großes A im Kreis. Nun gilt unangemeldetes Plakatekleben in der Regel als ein Fehlverhalten namens Ordnungswidrigkeit. Und hätten die paar hundert Leute die Bögen an Häuserwände geklebt, so hätte die Berliner Polizei dies sicher unver züglich unterbunden. Indes, die Mauer gehört nicht „uns“ und auch nicht die fünf Meter davor. Die Grenzposten der Hauptstadt, wie in DDR–Deutsch der Ostteil Berlins bezeichnet wird, traf die freudvolle Aktion auf ihrem Territorium anscheinend unerwartet. Neugierig lehnten sie Leiterchen an ihre Seite der Mauer und streckten, die spitzen Mützen voran, die Köpfe rüber, tauchten weg und wieder auf mit Kamera und Teleobjektiv. Offenbar hatten sie nicht vor, ihr Eigentum mehr als nötig zu beschützen. Angesichts der vielen hundert Kleberinnen und Kleber und der Massen an Schaulustigen, die den sonst so einsamen Weg an der Mauer am Samstag nachmittag zur Promenade verwandelten, war das auch schwierig. Weniger glimpflich waren die Grenzorgane erst kürzlich mit einem einsamen Protestierer, einem ehemaligen DDR–Bürger umgegangen, der einen Farbstrich an der Mauer langzog. Eine Tapetentür hatte sich plötzlich geöffnet, zwei Hände griffen den Überraschten und zerrten in hinüber. Er sitzt noch heute dort im Knast. Das schrille, hohe Lalülalü kündigt den weißen Bulli der britischen Militärpolizei an, der die Berburger Straße, eine Mauersackgasse, die zum britischen Sektor gehört, hochfährt. Doch offenbar haben sich auch die Engländer entschlossen, das Klebefest gelassen hinzunehmen. Bogen um Bogen reiht sich aneinander, Gedränge am manchmal nur drei Meter breiten Weg entlang der Mauer. „Kiek mal da, da is ja noch ne Nummer dran.“ Aufmerksame Augen haben die Computerziffern auf den Fragebögen entdeckt und mit flinken Fingern abgerissen. Als nach zwei Stunden und etwa einem Mauerkilometer Tapezieren der Grenzübergang Checkpoint Charlie erreicht ist, verhindert die Berliner Polizei, beauftragt von den inzwischen handelseinig gewordenen Alliierten, schließlich den deutsch–deutschen Grenzkontakt: Nachdem der zehn Zentimeter breite weiße Streifen auf dem Asphalt, der Ost und West trennt, mit Volkszählungsbögen beklebt und auch die ausreisenden Militärbusse durch schnellen Pinselstrich mit einem Aufkleber versehen waren, die DDR–Grenzposten in olivgrünen Uniformen mit feinen braunen Streifen Spalier standen, die britischen Militärbeamten in karierten Hosen auch nicht wußten, was sie machen sollten, und zu guter Letzt noch ein Hund über die Grenze lief, fuhr eine Hundertschaft Berliner Polizei im Kampfanzug auf und räumte das „Unterbaugebiet“ der DDR. „Verlassen Sie die Straße, Sie kommen sonst in den Bereich polizeilicher Maßnahmen von Ostberlin“, informierte der Einsatzleiter über Megaphon. „Das heißt Hauptstadt“, wurde er aus Demonstrantenmund und unter Gelächter korrigiert. Unterdessen waren einige unermüdliche Kleber weitergezogen und konnten, zunächst unbemerkt, die Wände des „Springer“– Gebäudes vollkleben. Ein kleines Feuerchen flackerte auf, wurde jedoch schnell von der Polizei gelöscht. Zwei Leute wurden festgenommen. Doch die Klebekarawane war nicht aufzuhalten, sie zog weiter Richtung Osten, bis der Kleister ausging....