Lyon: Ein Star im Zeugenstand

■ Elie Wiesel im Barbie–Prozeß: Eine Polemik gegen Zeugen erster Klasse

Aus Lyon Lothar Baier

Das Recht, nicht zur Sache zu sprechen, ist ein Recht, mit dem das Gericht in Lyon großzügig verfährt. Umso großzügiger, je größer der Name des Zeugen. Handelt es sich gar um einen Nobelpreisträger, kennt dieses Recht keine Grenzen mehr. Weil ein kleines Schwurgericht in der französischen Provinz sich nicht erlauben kann, den Terminkalender des weltbekannten und sich im Dienst an der Menschheit aufreibenden Schriftstellers Elie Wiesel durcheinanderzubringen, wird dessen Auftritt als „Zeuge allgemeinen Interesses“ um zwei Wochen vorverlegt, mitten in die Zeugenvernehmung zur Affäre Izieu hinein. Unter der magischen Wirkung des Namens Wiesel hat sich der Gerichtssaal gefüllt, so wie er sich zum letzten Mal bei der Zwangsvorführung des Angeklagten Barbie gefüllt hatte. Wie damals ist auch jetzt die Menschenrechtslobby um B.H. Levy und Marek Halter aus Paris angereist und lauscht der Stimme des Meisters, der von seinen 30 Büchern spricht, von den Dichtern, den Juden und der Abwesenheit Gottes. Was das Gericht von einem gewöhnlichen Zeugen verlangt, und was sich die gewöhnlichen Zeugen auch oft unter Tränen und nah am Zusammenbruch abringen, nämlich auszuspechen, was sie als Deportierte erlebten, wie sehr sich die Sprache auch dagegen sträubt, das darf von Elie Wiesel nicht verlangt werden. Das damals Erlebte sei „zu intim“ bzw. in den 30 Büchern aufgeschrieben. Es versteht sich von selbst, daß man Elie Wiesel nach der Aussage nicht wie einen gewöhnlichen Zeugen in den Saal zurückschicken kann, die bis zum Rückflug nach New York verbleibende teure Zeit des Dichters muß optimal genutzt werden. Statt wie üblich eine Frage an den Zeugen zu stellen, liest ein Anwalt der Nebenklage mit Erlaubnis des Gerichts einen langen Brief Elie Wiesels vor, der die gerade vernommene Ansprache zur besseren Einprägung in etwas anderen Worten wiederholt. Das Publikum ist dankbar dafür, daß der Nobelpreisträger auf diese Weise noch eine halbe Stunde im Saal festgehalten wird und nicht nur von hinten besichtigt werden kann. Jetzt weiß es endlich, wie das Gute im Menschen aussieht, das Elie Wiesel mit dem Ausdruck des unablässig leidenden Ghetto–Kindes verkörpert. Dann muß das Gute leider abreisen, der nächste Kongreß zur Rettung der Menschheit ruft. Das Gericht in Lyon muß wieder allein mit dem Bösen fertigwerden. Möge der Geist des Guten, den es in den Zeugenstand rief, ihm dabei helfen.