Selbstschutz für Gandhi

■ Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Indien und Sri Lanka

Die Entscheidung des indischen Premierministers Rajiv Gandhi, ohne die Einwilligung der sri–lankanischen Regierung Hilfsgüter für die Bevölkerung der umkämpften Jaffa–Halbinsel zu senden, hat die Beziehungen der beiden Länder zueinander auf einen vorläufigen Tiefpunkt gebracht. Dabei scheint es ihm weniger auf die „humanitäre Hilfe“ für die durch die Offensive der lankanischen Streitkräfte schwer in Mitleidenschaft gezogene tamilische Zivilbevölkerung zu gehen als vielmehr um einen Akt persönlichen Selbstschutzes. Schon immer haben die Ereignisse in Sri Lankas Tamilengebieten zu Reaktionen der 50 Millionen Tamilen im indischen Bundesstaat Tamil Nadu geführt. Bereits mehrfach haben sie deshalb von ihrer Zentralregierung ein härteres Durchgreifen gefordert, und die Stimmen, Indien solle den „Völkermord an Tamilien“ durch eine militärische Intervention beenden, mehren sich. Kein Thema beherrscht im Augenblick Tamil Nadu mehr als der Konflikt in Sri Lanka. Angefacht wird es von tamilischen Politikern des indischen Bundesstaates, die mit dem Schicksal der Tamilen in Sri Lanka meist persönliche Machtinteressen verfolgen. Eine zusätzliche Verstärkung erhält dieses Thema durch die Berichterstattung in tamilischen Zeitungen, die die teils einseitigen und übertrieben dargestellten Versionen der Ereignisse auf der Insel von der stärksten lankanischen Guerilla–Organisation, den „Liberation Tigers“, unkritisch übernehmen. Rjiv Gandhi ist deshalb in Zugzwang, will der besonders im südlichen Indien unbeliebte Premier nicht zusätzlich an Gewicht verlieren. Entscheidend bei seiner weiteren Vorgehensweise ist die Befriedung der tamilischen Bevölkerung Indiens, will er ein zweites Punjab auf dem Subkontinent vermeiden. Ob er sich über die Konsequenzen seiner spektakulären Entscheidung, die von Colombo als Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates betrachtet werden, bewußt ist, bleibt dahin gestellt. Leicht könnte es dadurch zu einer militärischen Konfontration kommen. Nicht nur bei der Regierung Sri Lankas, sondern auch bei anderen Staaten Asiens wird durch die Aktion das Gespenst des „Indischen Expansionismus“ wieder neu aufleben. Chaos herrscht jedoch nicht nur auf indischer Seite, Perspektivlosigkeit kennzeichnet auch das Bild der sich im Konflikt unmittelbar gegenüberstehenden Parteien. Präsident Jayawardenes Politik, die auf eine militärische Lösung durch die Rückeroberung verlorenen Terrains abzielt, kann den Streit ebensowenig lösen wie die zunehmenden Attacken der Guerilla auf unschuldige singhalesische Zivilisten. Alle Aktionen machen eine politische Lösung immer schwieriger und lassen Emotionen in den Vordergrund treten. Das bestehende Chaos auf allen Seiten ist gefährlich geworden. Walter Keller