Marshall–Plan: Trickreiches „Notopfer“ hat Geburtstag

■ Vor 40 Jahren begannen die USA, Gelder für die „alte Welt“ bereitzustellen, um sie an eine Weltwirtschaftsordnung unter ihrer Kontrolle zu binden

Von Kurt Hübner

Ein Mythos feiert Geburtstag. Heute vor 40 Jahren begründete der Ex–General und damalige US– Staatssekretär George C. Marshall anläßlich einer Rede an der US–amerikanischen Eliteuniversität Harvard die Einrichtung eines European Recovery Program (ERP), das dann schnell unter dem Namen „Marschall–Plan“ bekannt wurde: Zwischen 1948 und 1952 wurden vor allem den westeuropäischen Ländern etwas mehr als 13 Milliarden US–Dollar zur Verfügung gestellt, davon nahezu 90 Prozent in Form von Schenkungen. Die größten Empfänger waren Großbritannien (3,5 Mrd. Dollar), Frankreich (2,8 Mrd. Dollar), Italien (1,5 Mrd. Dollar) und Westdeutschland (1,4 Mrd. Dollar). Die restlichen Gelder teilten sich 14 weitere Staaten, darunter die Türkei, Jugoslawien, Island und Schweden. Die Hoffnungen der Empfänger waren groß. So meinte etwa der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard zu Beginn des Jahres 1948, mit den Geldern aus der MarshallHilfe die Investitionen zum Wiederaufbau des westdeutschen Kapitalismus finanzieren und auf diese Weise eigene Mittel für die Verbesserung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten freischaufeln zu können. Heute weiß man darüber Genaueres: In ökonomischer Hinsicht war der Marshall–Plan wennschon keine Pleite, so doch wenig ertragreich. Die ersten Lieferungen aus dem ERP trafen erst im Oktober 1948 in Westdeutschland ein - und von den Warenlieferungen im Werte von knapp 100 Millionen Dollar bestand der überwiegende Teil aus Baumwollprodukten. Investitionsgüter waren in den ersten Lieferungen nur mit der Lupe zu finden. Der wirt schaftliche Aufschwung auf der Basis eines effizienten, nur relativ gering zerstörten und kapitalistisch strukturierten Produktionsapparates war bereits in vollem Gange. Die eigentliche Bedeutung des Marshall–Planes ist nicht in den kurzfristigen ökonomischen Wirkungen, sondern in den strukturellen Festschreibungen und politischen Zielsetzungen zu sehen. Er war Bestandteil einer geopolitischen Strategie der USA. Bereits seit etwa 1943 waren in den verschiedenen Abteilungen der US– amerikanischen Administration Überlegungen angestellt worden, wie eine kapitalistische Weltwirtschaftsordnung nach dem siegreichen Ausgang des Zweiten Weltkrieges gestaltet werden könnte. Durchgesetzt hat sich schließlich das Programm eines multilateralen Weltkapitalismus unter Wahrung der Vormachtstellung der USA. In schneller Folge wurden eine Reihe übernationaler Institutionen wie etwa der Internationale Währungsfonds, die Weltbank oder das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) gegründet, deren Hauptaufgabe es war, eine nicht protektionistische Welthandelsordnung und den freien Fluß von Kapital in einem System fester Wechselkurse zu garantieren. In diese Reihe internationaler Regimes paßte sich auch der Marshall–Plan ein. Die politische Absicht, so Präsident Truman, war die Verhinderung der Entstehung „nationaler Kapitalismen“, wie sie sich in Westeuropa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg abzuzeichnen begannen. Staatliche Eingriffe in den wirtschaftlichen Prozeß mittels Devisen– und Kapitalverkehrskontrollen und bilateraler Handelsvereinbarungen sollten unterbunden, die freie Beweglichkeit von Kapital, sei es in Gestalt von Warenverkehr, Direktinve stitionen oder als Kreditgeld, gefördert werden. Eine solche Weltwirtschaftsordnung war im wohlverstandenen Eigeninteresse der USA. Dank ihres technologisch überlegenen Produktionsapparates und der hohen Arbeitsproduktivität mußte sie die internationale Konkurrenz nicht fürchten. Mit der Geldvergabe im Rahmen des Marshall–Planes übernahmen sie darüber hinaus ihre Rolle als Weltgläubigernation und trugen dadurch noch zu einer Verstärkung der Konjunkturdynamik bei. Indem sie die Länder Westeuropas, aber auch einige Länder der Dritten Welt mit dem neuen Weltgeld Dollar versorgten, wurden die Grundlagen eines internationalen Warenaustausches und damit auch eines internationalen Kapitalismus bereitet. Die Dollargeschenke wurden durchaus eigennützig verteilt. Im Economic Cooperation Act von 1948, der gesetzlichen Grundlage des Marshall–Plans, wurden äußerst detailliert die Bedingungen für die Verteilung der Gelder festgeschrieben. Die Geschenke waren nicht umsonst. Jedes Empfängerland mußte einen bilateralen Vertrag mit den USA abschließen und sich darin verpflichten, sich den Zielsetzungen des Gesetzes zu unterwerfen. Auf diese Weise konnten die USA die Verwendung der Dollargeschenke nicht nur kontrollieren, sondern in wesentlichen Teilen sogar selbst festlegen. Im Falle der Hilfeleistungen an Westdeutschland etwa wurde eine Regelung getroffen, wonach die aus den sog. „Gegenwertfonds“ entnommenen Mittel erst nach Prüfung und Genehmigung durch eine extra eingerichtete US– amerikanische Behörde verwendet werden durften. Bei diesen „Gegenwertfonds“ handelt es sich um Finanzmittel, die Importeure in deutscher Währung abführen mußten, soweit sie Waren aus dem ERP nach Westdeutschland einführten. Auf diesem Wege konnten die USA die westdeutsche Wirtschaftpolitik unauffällig, aber doch effizient kontrollieren. Solche „Gegenwertfonds“ in Zusammenhang mit Hilfeleistungen sind auch heute wieder im Gespräch. Zur Lösung der Schuldenkrise der Dritten Welt wird vor allem von sozialdemokratischer Seite die Forderung nach einem neuen Marshall–Plan erhoben. Eine Wiederbelebung dieses Mythos hilft hier jedoch nicht weiter. Die damit verknüpfte Vision eines gerechten Kapitalismus ist schließlich nicht weniger, als von einer Kröte das Fliegen zu erwarten. In anderer Weise besitzt der Marschall–Plan allerdings wieder höchste Aktualität. Seit Beginn der 80er Jahre häufen die USA Jahr für Jahr höhere Haushaltsdefizite an. Finanziert wird dieser Überkonsum durch Kredite aus allen Teilen der Welt. 40 Jahre nach Ausrufung des Marshall–Plans sind die Verhältnisse nachgerade auf den Kopf gestellt. Die USA sind auf die Verfügbarkeit über das internationale Geldkapital angewiesen, wollen sie nicht ihrer Position in der Weltgesellschaft verlustig gehen. Das „Notopfer“ jedenfalls ist längst zurückbezahlt.