: Die lange und die kurze Leine Gorbatschows
■ Die Führungen der Sozialistischen Länder müssen sich auf die Reform in der Sowjetunion einstellen und wollen innenpolitische Risiken vermeiden / Die Oppositionen hoffen auf Gorbatschow / Wie steht es um den politischen und wirtschaftlichen Spielraum für die Länder des Sozialistischen Lagers?
Von Erhard Stölting
Keiner hätte noch vor zwei Jahren damit gerechnet, daß die sowjetische Parteizeitung Prawda in Prag oder in Ostberlin von Hand zu Hand gereicht oder wie in Rumänien auf dem Schwarzmarkt gehandelt würde. Die Sowjetunion, das Land, das sonst Reformen eher bremste oder erstickte, ist plötzlich zum Hoffnungsträger geworden. Anhänger der DDR–Friedensbewegung z.B. übergaben in Ostberlin während des Warschauer–Pakt–Gipfels Ende Mai sowjetischen Offiziellen einen Brief an Michail Gorbatschow. Sie stellten darin Übereinstimmungen mit seinem Kurs fest. In Warschau diskutierten in der sowjetischen Botschaft Repräsentanten der pazifistischen und ökologischen Bewegung „Freiheit und Frieden“ stundenlang mit den bisher ungeliebten Sowjets. Viele östliche Oppositionelle richten also trotz aller Skepsis ihren Blick zurück nach Moskau. Eine Hoffnung nach „mehr Gorbatschow“ in den sozialistischen Ländern macht sich breit. Pardoxerweise treten damit gerade diejenigen für eine neue sowjetische Hegemonie auf, die sich früher strikt gegen den Imperialismus ihrer Führungsmacht ausgesprochen hatten. Dagegen entdecken die sozialistischen Regierungen plötzlich den „eigenständigen Weg zum Sozialismus“ neu. Die Sowjetunion ist, da stimmen sie mit Gorbatschow überein, nicht mehr das alleinseligmachende Zentrum des Weltkommunismus. Die Reaktionen auf den Kurs Gorbatschows sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die DDR–Führung weist darauf hin, daß es im eigenen Land nichts zu reformieren gebe; in der CSSR scheinen sich zwei Linien herauszubilden; in Ungarn ist man erleichtert, daß die eigene Wirtschaftsreform grünes Licht bekam; in Polen verspricht man, die Reform nun wirklich in Angriff zu nehmen; Bulgarien schließt sich wie üblich dem großen Bruder (verbal) an und aus Rumänien verkündet der Zar Ceausescu, daß es in seinem Lande keine Rückkehr zum Kapitalismus gebe. Zurecht aber können beide Seiten in diesen Ländern, die Regierenden und die Oppositionen, davon ausgehen, daß die sowjetische Hegemonie mit Gorbatschow fortbestehen wird. Ein Auseinanderlaufen des Bündnisses wird es nicht geben. Damit ist schon ein erstes Interesse der gegenwärtigen sowjetischen Führung umschrieben: die Erhaltung eines Zustandes, der nicht zum militärischen Eingreifen zwingt. Indem man den Verbündeten Spielräume läßt, hat man auch den Kitt geliefert. Selbst die Hoffnung der Oppositionen und auch die Zurückhaltung der Regierenden im „Block“ gegenüber der Reform sind daher in Moskau zunächst nicht unwillkommen. Jedes Land sei für sich selbst verantwortlich, lautet die offizielle Lesart noch. Denn die Gemeinsamkeiten bleiben, und sie erschließen sich am besten über die strategischen Interessen. Geschichtliche Leinen Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs hatte der Sowjetunion eine einzigartige historische Chance geboten. Sie arrondierte ihr Territorium um die baltischen Staaten, Galizien, die Bukowina und die Karpato Ukraine. Das Abkommen von Jalta ermöglichte es ihr, sich mit einem Kranz von Vasallenstaaten zu umgeben. Der nächste Weltkrieg, der noch in den fünfziger Jahren offiziell als unausweichlich galt, würde so nicht schon wieder auf sowjetischem Territorium stattfinden. Die Form der Anbindung zeigte die politische Gerissenheit Stalins. In keinem Land hätte die kommunistische Partei ohne die Anwesenheit sowjetischer Truppen die Macht erringen können. Die Revolution von oben geschah gewaltsam und ihr entsprach ein Herrschafts– und Gewaltapparat, der das sowjetische Modell weitgehend kopierte. Die neuen Herren erschienen den Menschen dort so als die Statthalter Moskaus. Denn sogar den Versuchen, sich über „nationale Wege zum Sozialismus“ eine eigene Legitimationsbasis zu verschaffen, wurde nach dem Abdriften Jugoslawiens im Jahre 1949 ein Riegel vorgeschoben. Außer in der DDR gab es überall blutige Säuberungen. Sie trafen vor allem Funktionäre, die im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen nicht in die Sowjetunion geflohen oder die jüdischer Herkunft (Kosmopoliten) waren. Nach dem Tode Stalins verfeinerte sich der Mechanismus allmählich zu seiner noch heute gültigen Form. Wo ein Land nach sowjetischer Auffassung abzufallen drohte - sei es durch Aufstände (DDR 1953, Ungarn 1956), sei es durch demokratisierende Regierungen (CSSR 1968) - schlug die Armee zwar zu. Vorsichtigen Versuchen, sich im eignen Land Zustimmung zu sichern, wurden nach 1956 jedoch, seit Gomulka in Polen und Kadar in Ungarn an die Macht gekommen waren, kaum Hindernisse mehr in den Weg gelegt. Die Regierungen wurden für die innere Stabilität zunehmend selbst verantwortlich. Als Selbstlegitimation diente der von Stalin auf handlich– schlichte Form gebrachte Marxismus–Leninismus. In ihn waren, ebenfalls seit Stalin, Versatzstücke des europäischen Nationalismus eingebaut: Die Staaten galten als politische Form der Nationen, die von den Regierungen repräsentiert wurden. Nicht die Re gierungen schlossen demnach Bündnisse sondern Völker, die damit zu „Brüdern“ wurden. Gerade die nationalistischen Elemente waren nicht ohne Risiko. Für die DDR war dieser Weg gefährlich. Denn die Identifikation von „deutsch“ mit dem aufgelösten Bismarck–Reich war in der Bevölkerung eingewurzelt. Die Nation galt für sie als „geteilt“. Die politische Gefahr, die aus dieser Sicht entstehen konnte, wurde dadurch gemindert, daß der Bevölkerung Ordnung und Gehorsam ein Grundbedürfnis war. Polen hatte 1945 zwar neue Westgebiete gewonnen, der gleichzeitige Verlust seiner Ostgebiete aber machte den nationalen Charakter seiner Regierung uneindeutig. Überdies war der polnische Nationalismus seit den Teilungen des Landes zwischen Preußen, Österreich und Rußland im 18. Jahrhundert sowohl katholisch wie auch rebellisch gewesen. Die ehemalige Hegemonialmacht Ungarn hatte erhebliche Gebiete an seine Nachbarn, vor allem an Rumänien, abgeben müssen. Die CSSR schließlich hatte sich zwar seiner deutschen Einwohner entledigt, aber sie war auch das Land, das als einziges im sowjetischen Machtbereich über eine stabile demokratische Kultur verfügte und in dem Diktatoren traditionell keine Chance gehabt hatten. Wie riskant für die Sowjetunion die nationalistischen Elemente im Marxismus–Leninismus waren, zeigte sich schließlich in Rumänien. Seit es Anfang der sechziger Jahre aus der Blocksolidarität auszusteigen begann, bediente man sich dort zur Rechtfertigung einer scharfen nationalistischen Propaganda, die selbst territoriale Ansprüche an die Sowjetunion nicht mehr ausschloß. Da dieses Land aber innen– und wirtschaftspolitisch den stalinistischen Politikvorstellungen besonders verhaftet blieb, wäre ein sowjetischer Gewaltakt schwer zu rechtfertigen gewesen. Die Problematik sowjetischer Eingriffe wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Sie schüren antisowjetische - oder besser antirussische - Einstellungen und können daher die Oberherrschaft nur kurzfristig stabilisieren. Die Vorgehensweise Jaruzelskis in Polen 1981 war daher selbst der damaligen sowjetischen Führung weitaus lieber. Diese Konstellation wird sich auch künftig kaum verändern. Obwohl in fast allen osteuropäischen Ländern „alte“ Parteiführungen sitzen, wird Gorbatschow ihnen seinen Reformkurs nicht direkt aufzwingen wollen. Denn unkontrollierbare Entwicklungen könnten auch ihn, der Logik des Herrschaftssystems folgend, zum (militärischen) Eingreifen zwingen und damit sein eigenes Reformprogramm zunichte machen. Die Wirtschaftsleine Seit spätestens 1949 waren zunächst alle osteuropäischen Länder gezwungen worden, das zentralistische sowjetische Planungssystem zu übernehmen. Jedes Land sollte wirtschaftlich weitgehend autark sein, der Zusammenhalt untereinander wurde durch die direkte Kontrolle aus Moskau gesichert. Seit 1962 brachte Chruschtschow eine neue Vorstellung ein. Die einzelnen Länder sollten sich wirtschaftlich spezialisieren. Sie wären damit wechselseitig aufeinander angewiesen. Anstelle äußeren Zwangs könnte gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit das „Lager“ zusammenhalten. Koordinationsinstanz sollte der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) sein. In den einzelnen Ländern wurde eine begrenzte Spezialisierung durchgeführt: Straßenbahnen baute die CSSR, Busse kamen aus Ungarn, Lokomotiven aus Bulgarien usw. Rumänien, dem eine Rolle als Agrarstaat zugedacht war, wehrte sich und begann ein eigenes, ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm zu realisieren. Die Rechnung ging nicht auf. Es wurde nicht nur in Branchen wie die Petrochemie investiert, in der weltweit ohnehin schon Über kapazitäten bestanden. Die Arbeitsproduktivität blieb so niedrig, daß nicht einmal die niedrigen Löhne noch Preisvorteile brachten; trotz aller Anstrengungen hinkte man ständig hinter den westlichen Qualitäts– und Servicestandards hinterher. Es gelang nicht, den technischen Rückstand aufzuholen. Nur durch die besonderen Beziehungen zur Sowjetunion konnten diese Mängel in den siebziger Jahren noch teilweise kompensiert werden. Die RGW–Länder lieferten, soweit es ging, hochwertige Industriegüter und Lebensmittel zwar in den Westen, der sowjetische Markt aber blieb der Rückhalt. Mit dem, was sie in die Sowjetunion lieferten, bezahlten sie die von dorther importier ten Rohstoffe. Seit 1972 bestand zudem eine günstige Regelung bei der Versorgung mit Erdöl und Erdgas: Um die Schwankungen auf dem Weltmarkt auszugleichen, legte die Sowjetunion als Preis für ihre Partner den durchschnittlichen Weltmarktpreis der jeweils letzten fünf Jahre fest. Die osteuropäischen Länder erhielten so billige Energie, während sie ihre Waren im Westen und in der Sowjetunion relativ teuer verkaufen konnten. Erst als Ende der siebziger Jahre aufgrund der Ölkrise die Weltmarktpreise für Öl sehr niedrig waren und die sowjetischen Konditionen sich veränderten, begann für manche Länder eine Energiekrise, die bis heute nicht überwunden ist. Wie dramatisch die Entwicklung war, kann ein ungarisches Beispiel zeigen. Für eine Million Tonnen Erdöl hatte das Land 1974 800 Ikarus– Busse an die Sowjetunion zu liefern. 1981 waren es schon 2.300 und 1984 über 4.000 Busse. Die Küken müssen laufen lernen Diese seit Anfang der achtziger Jahre eingeschränkten wirtschaftlichen Spielräume gegenüber der Sowjetunion kann sich jetzt Gorbatschow zunautze machen. Die Sowjetunion will und muß endlich haushälterischer mit den eigenen Naturschätzen umgehen. Denn erstens sind beim Erdöl die Produktionskosten in Sibirien erheblich gestiegen und zweitens läßt sich auf dem Weltmarkt ein Gewinn in harten Devisen erzielen, den die Sowjetunion selbst dringend braucht. Daß man es in der Sowjetunion satt habe, von den „Bruderländern“ für erstklassige Rohstoffe zweitklassige Waren zu erhalten, wurde inzwischen mehrfach verkündet. Für diese besteht nicht nur die Gefahr, daß ihnen die Energie knapp wird, sondern auch, daß bisher garantierte Absatzmärkte verlorengehen. So verfügt Gorbatschow gegenüber den Ländern seines Lagers und damit gegenüber deren politischer Führung über beträchtliche Pressionsmittel. Das bisher gültige Weiterwursteln muß aufgegeben werden. Doch wie es weitergehen soll, ist bisher kaum formuliert. Zwar wollen die Reformer nach eigenem Bekunden für die einzelnen Länder des Blocks keine Vorschriften machen, aber es ist unwahrscheinlich, daß sie ihre eigenen Methoden nicht für die besten halten. Mit Ausnahme des Ungarn Kadar und vielleicht des Polen Jaruzelski muß der neue Kurs in Moskau bei den Führungen der anderen Länder eher Besorgnisse erwecken. Die wirtschaftlichen Forderungen aus dem Kreml haben die einst so harmonischen Wirtschaftsbeziehungen unter Streß gesetzt. Erst recht aber führen die kulturellen und innenpolitischen Modernisierungspläne zu Sorgen um die innere Stabilität. Denn selbst wenn die sowjetische Reformgruppe deren Übernahme nicht erzwingt, so könnte sie doch auf (unerwünschten) Widerhall stoßen. Was im Mutterland des Sozialismus jeweils richtig war, war in den osteuropäischen Ländern ja niemals falsch. Außenpolitisch hingegen sind die meisten osteuropäischen Regierungen zweifellos erleichtert. Denn seit dem Ende der siebziger Jahre war die sowjetische Position nicht gerade intelligent. Der Einmarsch in Afghanistan im Jahre 1979 war nicht nur ein Verbrechen; er war ein Fehler, dessen Folgen absehbar waren. Der Abbruch der Abrüstungsverhandlungen in Genf 1983 führte die sowjetische Diplomatie in eine Niederlage. Die Rückkehr an den Verhandlungstisch, die den Fehler halbwegs reparierte, bedeutete zunächst einen amerikanischen Triumpf. Die osteuropäischen Regierungen haben damals auf die durch sowjetisches Ungeschick mitverschuldete Spannung seinerseits geschickt reagiert und versucht, die „Schäden zu begrenzen“. So ließen weder Honecker noch Jaruzelski die Gesprächsfäden abreißen, nachdem die Raketenentscheidung im Westen gefallen war. Gorbatschow machte seinen „Freunden“ dann sehr schnell klar, daß er in der Außenpolitik das letzte Wort beansprucht und ließ Honeckers 1986 schon zugesagte Westreise in die Bundesrepublik platzen. Daß das letzte Wort weiterhin in Moskau liegt, gilt auch für die Wirtschaft. Jedes Land des „Lagers“ hat wohl seine Spielräume, doch deren Länge wird in Moskau definiert. Es wird in eine neue Richtung gezogen, es gibt Gezerre, aber jeder darf nur soweit laufen wie die Leinen reichen. In einer Artikelserie wird die taz auf die jüngsten Entwicklungen in den einzelnen Ländern des Sozialistischen Lagers näher eingehen.
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