Die „Operation Thatcher“ war eine moderne Roßkur

■ 1. Teil: Margaret Thatchers „ Revolution“ hat der britischen Wirtschaft die „Krankheit“ ausgetrieben / Die Resultate sind nur oberflächlich fabelhaft / Trotz steigender Staatsausgaben funktionieren Bildungssystem und Wohnungsbau dürftig / Die Erhöhung der indirekten Steuern trifft vor allem die Einkommensschwachen

Aus London Rolf Paasch

Wenn vom Zustand der britischen Volkswirtschaft die Rede ist, dann ist auch die Metapher der Krankheit nicht weit. Seit Dekaden schon leidet die Ökonomie an der „british disease“, der Patient gilt allgemein als der kranke Mann Europas. Jeder britische Nachkriegspremier sah sich deswegen gezwungen, die Heilung der kränkelnden Wirtschaft zu versprechen und die Beendigung des schier unaufhaltsamen Niedergangs der einstigen Weltmacht zum zentralen Thema seiner (Wieder–)Wahl zu machen. Harold Macmillan versuchte es in den fünfziger Jahren mit den Mitteln eines konservativen Landarztes, Harold Wilson versprach eine Dekade später Genesung durch die Medizin des technologischen Fortschritts. Danach folgten mit Denis Healey und James Callaghan wieder zwei Homöopathen, die ihre moderaten Wässerchen allerdings vergeblich verschrieben; ehe 1979 mit Margaret Thatcher dann eine klinische Chirurgin an den Operationstisch trat. Sie entfernte das wuchernde Krebsgeschwür der allzu mächtigen Gewerkschaften und amputierte kurzerhand das Standbein der verarbeitenden Industrie. Die inflationären Schwellungen bekämpfte sie mit einer kontrollierten Geldmengendiät und ließ die verbürokratisierten Staatsbetriebe die Frischluft ihrer privaten „Enterprise Culture“ inhalieren. Einigen etwas träge gewordenen Gliedern spritzte sie Steuererleichterungen. Nach achtjähriger Be handlung kann der Patient nun wieder stehen und strahlt größere Zuversicht aus als je zuvor, so jedenfalls lautet der oberflächliche Befund. Doch um dem Rekonvaleszenten im Rennen des internationalen Wettbewerbs auch für die Zukunft eine Chance zu geben, so begründet Premierministerin Thatcher in diesen Tagen ihren Wunsch auf eine dritte Legislaturperiode, müsse die Behandlung noch weiter fortgesetzt werden. Ein Rückfall in den Sozialismus sei noch längst nicht ausgeschlossen. Am 11. Juni müssen nun die wahlberechtigten Briten darüber entscheiden, ob sie auch noch den krönenden Abschluß dessen erleben wollen, was der rechtsgerichtete „Economist“ unlängst als eine nur „halbvollendete Revolution“ kritisierte, was linke Kritiker dagegen als „regressive Modernisierung“ verteufeln. Die „Revolution“, zu der Margaret Thatcher 1979 angetreten war, sollte den Rückzug des Staates aus der ökonomischen Sphäre bringen. Staatliche Ausgabenbeschränkungen sollten Spielräume für Steuererleichterungen schaffen und die unternehmerischen Energien der durch zuviel Staat phlegmatisch gewordenen Briten freisetzen. Die Kontrolle der umlaufenden Geldmenge sollte die Inflation ersticken und statt über eine Lohn– und Preispolitik sollten die Einkommen in Zukunft über das freie Spiel der Marktkräfte bestimmt werden. Doch in der rezessiven Praxis der frühen achtziger Jahre hielt die neoliberale Theorieversion nicht das, was sie versprach. Zwar konnte die Preissteigerungsrate von ihrem Höchststand von 21 4,2 mit den anfänglich eingesetzten monetaristischen Instrumenten hatte diese Entwicklung allerdings recht wenig zu tun. Dank Milton Friedmans reiner Lehre konnte sich Frau Thatcher zwar als die vorbildlich–sparsame Hausfrau einer über ihre Verhältnisse lebenden Nation profilieren, die britischen Pfunde vermehrten sich allerdings trotz Geldmengenkontrolle munter weiter. Schon 1981, als der damalige Schatzkanzler Sir Geoffrey Howe gerade dabei war, die tiefe Rezession durch seinen Sparhaushalt noch weiter zu verschlimmern, konstatierte ein Parlamentsausschuß, daß zwischen dem erwählten Geldmengenindikator M 3 und der Inflationsrate keinerlei Beziehung bestünde. Doch es sollte noch fünf Jahre dauern, bis auch der heutige Schatzkanzler Nigel Lawson das offizielle Ende des M 3–Kults zugab. Nicht nur bei der Geldmengenkontrolle, auch in der Ausgaben– und Steuerpolitik verfehlte die Regierung Thatcher ihre Zielvorgaben. Die im Rahmen der NATO vereinbarte Steigerung des Rüstungsetats um jährlich 3 die immer kostspieligere Finanzierung der Massenarbeitslosigkeit brachten die mittelfristige Finanzplanung der Regierung bald völlig durcheinander. Im vergangenen Jahr lagen die Staatsausgaben sogar um 16,8 des Jahres 1979. Statt der versprochenen Ausgabenkürzungen gab es lediglich Haushaltsumschichtungen, vor allem zuungunsten der von den Kommunen verwalteten Bereiche des Erziehungs– und Wohnungswesens. Als Resultat des bildungspolitischen Versagens (nicht nur) der Tories, besitzt Großbritannien heute die am schlechtesten qualifizierte Arbeiterschaft Westeuropas und ein unter den andauernden Streikaktionen einer demoralisierten Lehrerschaft leidendes Schulsystem. Und während die Zahl der Hausbesitzer durch den Verkauf von einer Million Sozialwohnungen auf über 60 Unterklasse. Auch die unter dem Stichwort „Rückzug des Staates“ groß angekündigte Steuerreform geriet den Konservativen zur Umverteilung von unten nach oben. Denn während der Anteil der Steuern am Nationaleinkommen im letzten Jahr noch über dem des Jahres 1979 lag, hat die Verlagerung von den direkten auf die indirekten Steuern - Senkung des Standardsteuersatzes, Verdopplung der Mehrwertsteuer und Erhöhung der Sozialversicherung - einen eindeutig regressiven Effekt gehabt. In seinem Buch über die zunehmenden Ungleichheiten im Großbritannien der achtziger Jahre mit dem treffenden Titel „The rich get richer“ weist der Autor John Rentoul nach, daß 60 den oberen 20 zuflossen. Im Vergleich dazu hat sich das Nettoeinkommen der unteren 10 hat sich die Zahl der unterhalb der offiziellen Armutsgrenze lebenden Sozialfürsorgeempfänger von sechs auf zwölf Millionen verdoppelt. Damit gehört beinahe jeder fünfte Brite Margaret Thatchers neuer Unterklasse an.