Vopos und West–Rock heizen DDR–Protest an

■ Am dritten Tag von „Rock am Reichstag“ harter Vopo–Einsatz gegen Tausende Ost–Berliner Jugendliche / „Wir wollen Gorbatschow“ / 50 Festnahmen

Aus Berlin Imma Harms

Am Montag abend, dem dritten Tag eines dreitägigen Mammutrockkonzerts vor dem Reichstag direkt an der Mauer, kam es nach Einschätzung oppositioneller Kreise in der DDR in Ost–Berlin zur größten politischen Manifestation seit dem Aufstand vom 17. Juni 53. Während eines Konzerts der Gruppe „Genesis“ sammelten sich auf Ost–Berliner Seite in der Nähe des weiträumig abgesperrten Brandenburger Tors in den Abendstunden eine wachsende Menge von zumeist Jugendlichen; nach Berichten von Augenzeugen mindestens 4.000. Wie schon an den vergangenen Abenden kam es zu Sprechchören mit Parolen wie „Die Mauer muß weg“, „Theorie ist Marx, Praxis ist Murx“ oder auch „Wir wollen Gorbatschow“. Die Ost–Berliner Polizei, die zunächst offenbar versucht hatte, eine Eskalation zu vermeiden, ging später scharf gegen die Menge vor. Es kam zu massiven Knüppeleinsätzen. Die Vopos hetzten auch Hunde auf die Anwesenden. Weit über 50 Teilnehmer sollen verhaftet worden sein. Kameramann und Tontechniker eines westdeutschen Fernsehteams wurden festgenommen, der Tontechniker nach eigenen Angaben regelrecht zusammengeschlagen. Die Versammelten schienen nicht in erster Linie die Konfrontation mit der Polizei, sondern die Möglichkeit zur freien Artikulation zu suchen. „Alles drängelte sich um die West–Kameras“, berichtete ein Beteiligter. Die Ost–Berliner Nachrichtenagentur ADN erklärte gestern Berichte der Agenturen über die OstBerliner Auseinandersetzungen für „Hirngespinste westlicher Korrespondenten“. Offenbar hätten politische Kreise in West–Berlin Interesse daran, „Kreuzberger Verhältnissse zum Brandenburger Tor zu verlegen“. Fortsetzung auf Seite 2 Interview ebenfalls Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Auch die Jugendlichen bezogen sich auf die Kreuzberger Krawalle mit Rufen wie „Kreuzberg ist überall“ oder dem Lied „Kreuzberger Nächte sind lang“. Eine eindeutige politische Zuordnung mögen Ost–Berliner Oppositionelle noch nicht vornehmen. Zwar sei die Teilnahme an den Versammlungen im Laufe der drei Tage zunehmend politisch motiviert gewesen, doch würde eine Bewertung als „links“ oder „rechts“ so nicht zutreffen. Der größte Teil der Jugendlichen seien „Punks vom Prenzlauer Berg“ gewesen. Die politisch Aktiven hätten eher in der zweiten Reihe gestanden und dem Geschehen hilflos und frustriert zugesehen. „Die Öko– und Friedensgruppen scheinen mit ihrer Arbeit ein Stück an der Realität vorbeizugehen, sonst wären sie nicht so überrascht gewesen von dem, was da ablief“, schätzt der ausgebürgerte DDR–Oppositionelle Roland Jahn. Nach den Auseinandersetzungen und trotz der ADN–Dementis und Verschwiegenheit der DDR– Presse über die Vorfälle, erklärte das sowjetische Außenministerium, Führung und Volk der DDR unterstütze „voll und ganz“ die Politik der „Perestroika“ (Umgestaltung) in der Sowjetunion. Wenn die Jugendlichen „Wir wollen Gorbatschow“ gerufen hätten, „reizt uns das keineswegs, darüber kann man sich nur freuen“, erklärte der Sprecher des UdSSR– Außenministeriums gestern. Die Reaktionen in der Bundesrepublik waren von politischer Routine geprägt. Hans Jochen Vogel (SPD) und der deutschlandpolitische Sprecher der CDU/CSU– Fraktion, Lintner, forderten, die Mauer müsse durchlässiger gemacht werden. Vogel sagte weiter, die DDR solle ihre Jugendlichen eben zu solchen Konzerten nach West–Berlin fahren lassen. Der West–Berliner Senat hat die DDR–Behauptung, er habe das Rock–Spektakel als Provokation inszeniert, als „absurd“ zurückgewiesen. Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost–Berlin, Staatssekretär Bräutigam, hat im Ost–Berliner Außenministerium „schärfsten Protest“ gegen die „Mißhandlung westlicher Journalisten und die Behinderung einer rechtmäßigen Berichterstattung“ eingelegt. Der Protest sei zurückgewiesen worden, sagte Bräutigam nach dem kurzen Gespräch zu Journalisten.