100.000 im Bonner Dauerregen für Abrüstung

■ Die Stimmung schwankte zwischen Hoffnung auf die Politiker und Zweifel am Sinn des eigenen Handelns / Geringe Nachfrage nach friedenspolitischer Lektüre / Nur vereinzelte Wurfeier für Hans–Jochen Vogel

Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Als am Sonnabend mittag um 13.30 Uhr im regenverschlammten Bonner Hofgarten die Zahl von über 100.000 Demonstranten bekannt gegeben wird, kann sich Gerd Greune endlich den Angstschweiß von der Stirn wischen. Der Mann vom Koordinationsausschuß hatte vor dem Oberverwaltungsgericht hoch gepokert: Um grünes Licht für den Hofgarten zu bekommen, versicherte er dem Gericht an Eides Statt, ihm lägen 100.000 Anmeldungen vor. Morgens um elf Uhr sah es am Bonner Südfriedhof noch so aus, als ob sich Greune beim OVG künftig nicht mehr blicken lassen dürfte. Am südlichen Sammelpunkt für einen der drei Demo–Züge drängten sich die Demonstranten in überschaubaren Grüppchen in offenstehende Garagen und unter das Dach von „Mars Video Bar“. Statt für die Sternschnuppe mit Sowjet–Symbol, die auf einem gigantischen DKP–Gemälde zwecks „Friede auf Erden“ herniedersauste, öffnete sich der Himmel hier nur für real–imperialistischen Dauerregen. Doch die Leidensbereitschaft ist in der Friedensbewegung nicht umsonst von hohem moralischem Wert. Klaglos formierten sich jetzt auch jene zur Demonstration, die aus sonnigeren Gefilden in Shorts und Sandalen angereist waren. Blaue Müllsäcke zum Solidaritäts–Preis von einer Mark fanden schnell Absatz zur Kreation schlichter Regenkleidung, und aus den DKP–Plakaten „Im Osten viel Neues“ ließ sich auch für Parteilose manch passabler Hut formen. Unverdrossen trottete der wachsende Zug Richtung Innenstadt, doch so geräuschlos, als hätten die Abrüstungsschlagzeilen der vergangenen Monate jede Forderung zum Erstummen gebracht. Szenenwechsel zum nördlichen Demo–Teil. Hier marschiert die SPD–Parteiprominenz medienwirksam vorneweg. Wenn es so war, wie es sich Journalisten später erzählen, dann würde es für eine Karikatur taugen: Die Sozialdemokraten plauschen in einer Kneipe, und just als sich die Demo formiert, kommen sie heraus, greifen sich ein Transparent und setzen sich an die sprichwörtliche Spitze der Bewegung, während die Fernsehkameras in Stellung gehen. „Jeder ist eben da gegangen, wo er wollte“, sagt Mechthild Jansen vom Koordinationsausschuß dazu später lapidar. Jeder mag auch gewußt haben, daß aus dem nichtssagenden „Grußwort“ Hans–Jochen Vogels in der „Tagesschau“ die Hauptrede werden würde. Im Hofgarten stoßen sich nur wenige an dem Auftritt des Partei– Chefs. Während die zahlreich versammelten Jusos heftig mit ihren Fahnen wedeln, fliegen aus einem kleinen Pulk von Schwarzbejackten ein paar Eier. Die Ordner hechten über die Absperrgitter und stürzen sich in ein Handgemenge, als handele es sich um jenen legen dären Geschoßhagel, der an diesem Ort einmal für Willy Brandt auf einer Nicaragua–Kundgebung zelebriert wurde. Rings um die große Wiese blüht der alternative Konsum wie immer. Biologischer Wein aus garantiert eigenem Anbau und Berge aus vegetarischer Reispfanne erfordern geduldiges Schlangestehen. Und wie immer gilt das Parkinsonsche Gesetz, daß der Kaffee gerade dann neu durchlaufen muß, wenn man selber an der Reihe ist. Beim kommerziellen Randgeschehen sind auch die Solidaritätsgruppen präsent, die sonst auf dieser Demonstration kaum mehr das Bild prägen: Köfte für den türkischen Antifaschismus, Empanadas für Chile. Schlitternd im Matsch schieben sich die Tausende von Menschen an handbemalter Seide, Postkarten mit besinnlichen Sprüchen und den obligatorischen Ghandi–Plakaten vorbei. Geringere Nachfrage verzeichnen die Anbieter friedenspolitischer Lektüre. Von einer neuen Broschüre zum Hintergrund der aktuellen Abrüstungsverhandlungen werden bis Kundgebungsende kaum mehr als ein Dutzend verkauft. „Was interessiert die Leute eigentlich überhaupt?“, fragen sich die Verkäufer aus der „Dokumentationsstelle Friedens– und Sicherheitspolitik“. „Null–Null jetzt“ und Gorbatschow interessieren, soweit sich vom optischen Bild dieser Massenkundgebung auf das Bewußtsein ihrer Teilnehmer schließen läßt: Gorbatschow in Pose mit ausgestreckter Hand, mit Besen, die Raketen von der Welt fegend... Die Strömungsvielfalt der Friedensbewegung, die auf vergangenen Demonstrationen noch radikale Anti–NATO–Parolen einschloß, scheint sich an diesem Tag im Hofgarten reduziert zu haben. Die Stimmung schwankt zwischen der Hoffnung auf die Politiker und der Ratlosigkeit über den Sinn eigenen Handelns. „Frieden und Quark machen stark“, steht auf einem Schild.