Kreuzberg: Nur noch der Stacheldraht fehlt

■ Ausnahmezustand beim Reagan–Besuch: Ein ganzer Bezirk als Polizeikessel / Auch Presseausweise schüzten Freitag nacht nicht vor Polizeischlägen / U–Bahn–Verkehr auf zwei Linien eingestellt / Straßenkontrollen blockierten Zufahrten

Von Maria Kniesburges

Berlin (taz) - Eine kalte regnerische Nacht. Der nasse Asphalt spiegelt sich in den Schilden der Polizisten. In dichten Ketten riegeln sie den Heinrichplatz ab, seit jeher eines der Zentren in SO 36, dem süd–östlichen Kreuzberg. Auch an den Querstraßen zur Oranienstraße, die mitten durch den Heinrichplatz verläuft, das längst vertraute Bild: Polizeiwannen sperren die Straßen, Polizeiketten sichern die Fußwege vor den Passanten. Bedrohlicher noch als ihre großen weißen Schilde und die weißen Helme springen ihre sperrigen, mit weißen Bändern befestigten Schienbeinschilde ins Auge. Monströse Insekten, die einem Science–Fiction–Film entsprungen zu sein scheinen, sich auf irdischem Terrain jedoch erstaunlich behende und flink bewegen - zumal wenn sie ein Opfer ausgemacht haben. Vor wenigen Stunden hat Reagan Berlin–West verlassen. Der Ausnahmezustand über Kreuzberg ist zum Teil wieder aufgehoben. Am Nachmittag war noch der ganze Bezirk abgesperrt, jetzt - schon Samstag, 1.30 nachts - scheint es nur noch die Oranienstraße zu sein, und das ist man hier seit Wochen gewohnt. Wie so oft seit der Mainacht, in der die Kreuzberger Bolle–Filiale abbrannte, sorgen unvermittelt vorbeirasende Wannen mit Blaulicht, aber ohne Sirene, und noch mehr die Suchscheinwerfer an den hohen Hausfassaden für eine gespenstische Szenerie. Gegen die formierten Polizeireihen wirken die Kiez–Bewohner eher vereinzelt. Man geht hin und her, einige stehen vor Kneipen, andere lehnen mit der Bierdose in der Hand im Hauseingang. Es ist nicht ratsam in diesen Zeiten, zu dritt durch diese Straßen zu gehen. Zu groß die Gefahr, plötzlich als Kleindemonstration verkannt und von rasant nachsetzender Polizei verfolgt zu werden. Auch ein Bundespresseausweis nützt hier nichts mehr. Ein Journalist des Berliner Tagesspiegel ruft Freitag nacht in der Oranienstraße mehrfach „Presse, Presse“, bevor er von der Polizei zum Schutze des Gemeinfriedens niedergeprügelt wird. Menschen werden in dunkle Hin terhöfe gejagt, wo bereits weiße Helme aus der Wartestellung schimmern. Häuser werden bis zum Dachboden hinauf durchsucht. Szenen einer Nacht, die nach den vorangegangen Nachmittagsstunden niemanden mehr überraschen. An diesem Nachmittag gelingt es nicht, die innere Ruhe von zuhause bis ins nahegelegene Schwimmbad zu retten. Immer da, wo der von dichten Bäumen überschattete Spazier– und Fahrradweg entlang dem Landwehrkanal in Richtung Kottbusser Tor eine Straße kreuzt, stehen rund zwanzig Polizisten im Weg. An der dritten Kreuzung reichts: „Könnten sie bitte mal aus dem Weg treten“, rufe ich bestimmten Tonfalls, ohne zu bremsen. Notgedrungen weicht die Staatsgewalt meinem Hollandrad. Ausnahmezustand auf dem Fahrradweg punktuell durchbrochen... Am Kottbusser Tor mindestens das doppelte Aufgebot an Polizei. Passanten werden kontrolliert, Inhalte von größeren Taschen und Rucksäcken genauestens inspiziert. Frauen mit schweren Einkaufstüten bahnen sich verärgert ihren Weg durch die Sperren. Der Straßenverkehr kommt dank Polizeisperren immer wieder zum Erliegen. Die Gesichter der Passanten sind überwiegend empört, die Gesichter der Polizisten einheitlich entschlossen gleichgültig. Kaum ist der eine vom anderen zu unterscheiden. Im Schwimmbad fällt eins sofort ins Auge: Weder die Umkleidekabinen noch das Becken sind von Polizei umstellt. Aber es fehlt noch etwas. Die U–Bahn–Linie 1. Die Hochbahnschienen gegenüber sind verwaist - wo doch für gewöhnlich um diese Zeit fast jede zweite Minute ein U–Bahn–Zug vorbeifährt. Trotzdem: Heute ist nicht nur das Schwimmen entspannend, vor allem die Normalität, in der sich der Schwimmbadbetrieb präsentiert, wirkt beruhigend. Eine Atempause von kurzer Dauer. Der Nachhauseweg, diesmal über die Skalitzer Straße, eine der Hauptverbindungsstrecken zwischen Kreuzberg 36 und dem Stadtzentrum um die Gedächtniskirche, gestaltet sich wie eine Fahrt durch Manövergelände. Allein zwischen dem U–Bahnhof Prinzenstraße und dem Kottbusser Tor sind rund zwanzig große Mannschaftswagen aufgefahren. In Reih und Glied parken sie unter der Hochbahntrasse. Nicht nur der U–Bahn–Verkehr ist eingestellt, auch der Straßenverkehr kommt an den Polizeisperren zum Erliegen. Ein ganzes Wohngebiet ein einziger Polizeikessel. Vergitterte Mannschaftswagen auch in den kleineren Seitenstraßen. Behelmte Polizei an größeren Kreuzungen. Passanten werden durchsucht, Autofahrer schon vor den Sperren herausgewunken, Fahrradfahrer müssen ihre Radtaschen öffnen. Vor den U–Bahnhöfen hellauf empörte, aber auch viele rat– und hilflose Menschen: Frauen und Männer, die zur Arbeit wollen, Schulkinder, die nach Hause fahren möchten. Sie haben keine Chance. Solange der US–Präsident in Berlin weilt, steht die U– Bahn still. Von Sonderbussen ist die Rede, doch niemand weiß genaueres. Und wenn es sie auch gäbe - sie würden voraussichtlich nur bis zur nächsten Straßensperre kommen. Am späten Nachmittag hängt nicht nur der bevorstehende Regen in der Luft. Aus den Straßen heraus lädt sie sich mit Spannung auf, die auf die Schläfen drückt. Aus einer der Eckkneipen heraus ist laut der Sender Freies Berlin zu hören: Polizeikessel an der Tauentzienstraße nahe der Gedächtniskirche. Rund 3OO Anti–Reagan–Demonstranten hermetisch eingezingelt. Kaum vorstellbar, daß in dieser Stadt noch weit mehr Polizei im Einsatz ist, als mit dem bloßen Auge schon in Kreuzberg wahrnehmbar.