Rechtsstaat ausgesetzt

■ Zu den Polizeiblockaden in Berlin

In Berlin wurde während des Besuchs des US–Präsidenten ein Bezirk mit über 200.000 Einwohnern für Stunden von der Außenwelt abgeschnitten. Eine polizeiliche Totalblockade, die bis zum vergangenen Freitag vielleicht in Seoul, in Santiago de Chile oder in Soweto vorstellbar gewesen wäre, nicht aber im Geltungsbereich des Deutschen Grundgesetzes. Die Menschen im belagerten Kreuzberg wurden - im Auftrag der Polizei - darüber belogen, warum die U–Bahn über Stunden stillstand. Einen Grund für die Straßenblockaden erfuhren sie nicht. Gleichzeitig trieb die Polizei im Berliner Stadtzentrum wahllos Bürger im strömenden Regen zusammen und hielt sie über Stunden hinweg fest, obwohl Hamburger Gerichte erst kürzlich die Rechtswidrigkeit eines solchen Kessels feststellten. Polizeistaat ist, wenn polizeiliche Machtausübung keine Beschränkung mehr durch unabhängige rechtsstaatliche Institutionen findet und die Exekuteure der Macht es genau darauf anlegen. Keiner der Betroffenen fand einen Richter, der ihm in der Stunde der Verletzung seiner elementarsten Grundrechte hätte beistehen wollen oder können. Die eingeschlossenen Kreuzberger nicht, weil sie die polizeiliche Anordnung der U–Bahn–Blockade nicht kannten oder schlicht nicht zum Gericht gelangen konnten; die im Kessel umzingelten nicht, weil sie am Freitag abend keinen zuständigen Richter mehr fanden. Die staatliche Gewalt war grenzenlos. Die Ereignisse sind es wert, als Lehrstücke für die Frage der Berechtigung privater, nicht–staatlicher Gewalt festgehalten zu werden: Durften und dürfen die Betroffenen nicht in einer solchen Situation zur Selbsthilfe greifen, das heißt, die Mittel anwenden, die die Bewegungsfreiheit, die Freizügigkeit wieder herstellen? Und dürfen sie nicht, wenn es kein geringeres geeignetes Mittel gibt, dann auch zur Gewalt greifen, um dem Kessel zu entrinnen oder die Blockade aufzuheben? Aus den Bekenntnissen eines Ex–Polizeidirektors wissen wir, daß die Berliner Polizei anläßlich des letzten Besuchs des US–Präsidenten 1982 glaubte berechtigt zu sein, mit Mitteln „sicherheitspolitische“ Vorsorge treffen zu dürfen, die sie selbst als rechtswidrig einstufte. Die Verantwortlichen der Berliner Sicherheitsbehörden, allen voran der Innensenator und der eben eingeführte Polizeipräsident, kannten also das Problem. Sie haben die jüngsten Aktionen entweder mitgeplant oder nicht verhindert. In beiden Fällen haben sie jede Berechtigung verloren, verantwortlich das Geschäft der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu besorgen. Nur wenn sie aus dem Amt gejagt werden, und zwar ohne sich quälend hinziehende Diskussionen, lassen sich die Zweifel an der Berechtigung des staatlichen Gewaltmonopols, das von Leuten wie ihnen exekutiert wird, beschränken. Und nur so läßt sich der böse Verdacht beseitigen, daß die Berliner Ereignisse Bestandteil des Unternehmens christdemokratischer „Ordnungs“politiker sind, nach der sozialen Ausgrenzung eines Teiles unserer Bevölkerung nun auch die geographische und rechtsstaatliche Ausgrenzung zu betreiben. Nach dem Motto: Persönlichkeits– und Freiheitsrechte gelten unbeschränkt nurmehr für diejenigen zwei Drittel unserer Gesellschaft, die am öffentlichen Reichtum an Rechts– und Vermögensgütern teilzuhaben in der Lage sind. Jony Eisenberg