Willy Brandts streitbarer Abschied

■ In seiner Abschiedsrede vor dem SPD–Sonderparteitag warnt der ehemalige SPD–Vorsitzende vor der Flucht der Genossinnen und Genossen in „Geschlossenheit“ und „Disziplin“ / Sein Appell: Im Zweifel für die Freiheit

Berlin (taz) - Willy Brandts Abschiedsrede, ein Credo und ein Dokument: von Ausgewogenheit und harter Kritik, von sibyllinischen Formulierungen und Präzision. Wenn in der SPD Vogels diese Rede genau gelesen wird, kann sie sich noch als schwerer Brocken erweisen. Ein Vermächtnis Brandts ist die Warnung davor, aus den politischen Widersprüchen in der Partei in „Geschlossenheit“ und „Disziplin“ zu flüchten. „Die alterfahrenen Parteisekretäre wissen und sagen: Eine schwache Organisation kann verhindern, daß eine gute Politik wirksam wird; aber eine unzulängliche Politik kann auch durch eine starke Organisation nicht ausgeglichen werden (...) Kraft gewinnen wir aus der Substanz unserer politischen Ideen.“ Dazu die Mahnung: Die SPD solle nicht „zur geschlossenen Anstalt“ werden. Unversöhnlich blieb Brandt bei dem Eklat um die designierte Vorstandssprecherin Mathiopoulos: Ihm „wäre ein anderer Abgang lieb gewesen.“Die „Fremdenfeindlichkeit“ sei einer europäischen Partei unwürdig gewesen. „Mit sozialdemokratischem Stallgeruch hat das nichts zu tun.“ Und: „Wir waren schon mal weiter.“Ebenso unversöhnlich formuliert er gegen seine partei–internen Kritiker: „Auch ist es angenehm, Führungsschwächen zu beklagen, wenn es sich nicht um die eigenen handelt. Man kann dem scheidenden Vorsitzenden auch seine Liberalität ankreiden; nur muß man wissen, daß er ohne sie nicht mehr er selbst gewesen wäre (...) Ich halte nichts von einer teutonischen Pseudo–Autorität.“ Viel Raum hat das Plädoyer für die Offenheit der Partei, es ist ein Leitthema der Rede: „Wir brauchen die kritische Sympathie der Außenseiter (...) die Unbequemen (...) die Querdenker.“ Er warnt vor Lagermentalität, davor, daß die Rechte mit der Angst vor dem „rot–grünen Chaos“ „uns unserer Bewegungsfreiheit beraubt und uns vor ihren Gnadenerweisen abhängig macht. In dieser Linie die scharfe Kritik an der Wahlstrategie Raus: „Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, was alles noch vor kurzem an erstaunlichen Thesen verkündet wurde: Als ob man nur bei eigener Mehrheit das Regieren anstreben dürfe. Als ob die SPD mit einer Partei nie zu tun haben dürfe.“ „Entscheidend ist nicht, mit wem, sondern für was.“ Gleichwohl konstatiert Brandt, daß ein rot– grünes Bündnis auf Bundesebene nicht möglich gewesen wäre, weil selbst auch für die auswärtige Politik die Standpunkte zu weit auseinandergelegen hätten. „Der überbordende fundamentalisitische Unsinn hat den Abstand erheblich vergrößert.“ Die Grünen bezeichnet er als die „grün–livrierte Schiffskapelle“ einer Titanic, die die Unionskonservativen immer mehr in die Eisberge steuern. Für Brandt ist jetzt die Chance gegeben, daß sich die SPD mit den neuen Bewegungen versöhnt. „Bewegungskraft kommt nicht aus dem Zuschauen.“ Zum Plädoyer für Offenheit kommt hinzu, daß Brandt seinen Abschied auch als Abtreten der Generation des antifaschistischen Widerstands begreift. Seine Selbstkritik an der Schwelle dieses Wechsels. „Hättest Du Deine Partei durch mehr Ansporn zu Kühnheit und Offenheit nicht noch besser voran helfen können?“ Wenn er in diesem Zusammenhang trotz bester Wünsche an seinen Nacherfolger Vogel formuliert, - „Die Nachrückenden sollten nie zu lange damit warten, der Gemeinschaft zu geben, was sie zu geben vermögen“ - dann definiert er Vogels Amtszeit doch als Interimszeit und seine „Enkel“ als die wahren Erben der Ära Brandt. Die Rede wird eröffnet mit einem emphatischen Plädoyer für die Freiheit, die neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere. Er verbindet damit Kritik am sozialdemokratischen Etatismus, an sozialstaatlicher Bürokratie. Der „freiheitliche Gedanke im demokratischen Sozialismus“ soll „noch stärker werden.““Die Idee des freiheitlichen Sozialstaates“ muß „entbürokratisiert werden.“ Hier setzt auch Selbstkritik an seiner Regierungszeit ein: „Nein, eine Laune war es nicht, als ich 1969 dazu einlud, mehr Demokratie zu wagen. (...) Und wenn die Zeit reif ist, werden wir die Pflöcke der demokratischen Reform wiederum ein Stück weiter vorn einschlagen.“ „Wie man sich hüten muß, durch angebliche Notwendigkeiten staatlicher Sicherheit nicht auf Abwege gelotst zu werden, habe ich seinerzeit am Beispiel des sogenannten Radikalen–Erlasses schmerzlich erfahren.“ Brandt adressiert sein Vermächtnis nicht nur an die Sozialdemokratie, sondern protestiert gegen die deutsche Kultur. Es bewegt sich zwischen der Spannung: „Camus meinte, wir dürften uns Sisyphus sogar als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Und: „Ja sagen zum Leben, statt neurotisch mit ihm zu hadern.“ Klaus Hartung