Jubel, Trubel, Heiterkeit beim Neuen Deutschland

■ 460.000 Berliner feierten am Wochenende das Pressefest des Neuen Deutschland im Ost–Berliner Friedrichshain Konstantin Wecker spielte auf Einladung der FDJ für „Unzucht und Liebe“ / Auch Punks feierten mit dem SED–Zentralorgan

Aus Ost–Berlin Klaus–H. Donath

Unter den Linden. Ein blauer Volvo der Güteklasse mit tschechischem Kennzeichen schleicht auf einen Vertreter der Ordnungskräfte zu. Zum Pressefest? will er wissen. Mein Blick fällt auf ein riesiges gelbes Schild in der Heckscheibe der Karosse: „Sexy Senior on Board“. Ich konnts nicht glauben, beuge mich neugierig vor, und in der Tat, der Endfünziger hatte nicht übertrieben! Das Kampflied „Wir sind die junge Garde des Proletariats“ muß er zu seiner Lebensmaxime gemacht haben. Ob es sich bei diesem Dressman um das angekündigte Redaktionsmitglied von „Probleme des Friedens und Sozialismus“, Jerzy Waszczuk aus Prag, handelte, konnte ich nicht mehr ausmachen. Auf der 50 ha großen Veranstaltungsfläche im traditionellen Volkspark Friedrichshain ging es dann etwas bescheidener zu. Jung und alt waren unterwegs, selbst Punks zeigten keine Berührungsängste mit dem bleischwangeren Zentralorgan. Dies präsentierte sich dann auch, ganz gegen die Gewohnheit, bunt, ja sogar ausgelassen. Auf der ersten Bühne im Zentralbereich des Pressezentrums schluchzte am Sonnabend nachmittag Ost–Berlins Roland Kaiser, Michael David, durch das Reper toire westlicher Pop–Sweeties „Some broken hearts never tell ..“ Wer es schärfer brauchte, holte sich nebenan Bockwurst oder Broiler mit Senf für knapp ne Mark. Als der tschechischen Countrykönigin Lili Iwanova die Stimme versagte, sprang sofort Chefredakteur Günter Uhlig mit Lederschlips dazu, als hätte er bei Frank Elstner assistiert: „Liebe Gäste, Gaukler sind andere Menschen als wir. Sie wollen immer arbeiten, auch wenn sie krank sind...“ Die Öffnung der DDR noch weiter nach Osten demonstrierten zwei Recken in einer Einführung in Japanische Kampfsportarten bei Perkussionsbegleitung. „Det sind die beeden aus Eisenhüttenstadt“, ließen sich zwei neben mir vernehmen, „Jewalttätig! Daß det hier zujelassen ist?“ Von Politik war hier nicht viel zu spüren. Die Atmosphäre ließ nichts von den Unruhen am vergangenen Wochenende an der Mauer erahnen. Kein Knistern, keine Spannung. Ganz so, als wäre die Dramaturgie dem „Kulturpolitischen Wörterbuch“ entnommen: „Pressefeste sind ein Ausdruck der engen Verbundenheit der Partei der Arbeiterklase mit allen Werktätigen, sie spiegeln den Optimismus und die Lebensfreude der Werktätigen über die gemeinsam erreichten Erfolge sowie die Verbundenheit mit der so zialistischen Presse wider“, heißt es da - und hier sah es auch so aus. Und als hätte man von oberer Stelle jede weitere Provokation vermeiden wollen, waren die Volkspolizisten, jedenfalls die in Uniform, in Ost–Berlin auffallend dünn gesät. Eine Erholung für Besucher aus dem in den letzten Tagen besetzten Westteil der Stadt. Mit einem besonderen Knüller konnte der südafrikanische African National Congress aufwarten: Plastiktüten mit seinem Emblem. Immer noch heißbegehrt in Ost– Berlin, egal ob vom ANC oder aus dem KaDeWe. Ruhiger ging es bei der halbstaatlichen sowjetischen Nachrichtenagentur Novosti zu - wider Erwarten. Sie bot immerhin Gorbatschows Prager Rede „für ein neues Denken“ und dessen Adresse an den sowjetischen Gewerkschaftskongress „Die Umgestaltung ist das ureigenste Anliegen des Volkes“ ungekürzt in deutscher Übersetzung an. Doch mit der A–capella–Band älterer Herren gegenüber konnte sie nicht mithalten. Die demonstrierten auf ihre Weise, wo die Umgestaltung anzusetzen hätte: „Die schönsten Beine in Berlin, hat meine Freundin Evelin“. Grönemeyer warnte die Pilotenanwärter und kremelte vor sichhin: „Flugzeuge in meinem Bauch“. Auf dem kleinen Bunkerberg, dem „Mont Klamott“, nach dem Krieg aus Trümmern aufgeschichtet, präsentierte sich die DDR–Mode zwei Tage non stop, keck und gewagt, zuweilen ein wenig schlüpfrig. Man hätte den Eindruck haben können: hier ist die Welt noch in Ordnung! Aufmüpfigkeit, wenn auch nur moderat, konnte Konstantin Wecker bei den 2.000 Zuhörern wecken, die trotz häufigen Regens zwei Stunden ausharrten. Er war einer Einladung der FDJ gefolgt. Seine Aufforderung, „Unzucht zu treiben“, „meinetwegen auch mit Gummi“, „statt Kriege zu verlieren, einfach mal die Liebe variieren... machen wir es heute abend mal zu dritt“, provozierte Lustschreie und frenetischen Beifall. Nicht anders seine Bemerkung zum grenzübergreifenden Charakter der Deutschen: „Alles Lehrer und Freizeitpolizisten“. Unbestätigten Meldungen zufolge kam es nach dem Fest wieder zu Auseinandersetzungen und „Mauer weg“–Rufen in der Hauptstadt.