Lokalzeit, bleiern

■ Berliner Politik im schwerelosen Raum

Auf politische Ereignisse reagieren Parteien mit Presseerklärungen. In Berlin ist am Wochenende der Rechtsstaat kurz abgeschafft worden. Also reagieren die Berliner Oppositionsparteien mit Presseerklärungen. Die AL fordert den Rücktritt des Innensenators. Das geht nur über ein Mißtrauensvotum mit namentlicher Abstimmung. Die regierende Koalition wird daran nicht scheitern. Die SPD appelliert darum an den Regierenden Bürgermeister, den Senator zu entlassen. Auch sie weiß, daß das nichts erschüttert. In Berlin passiert viel, nur Folgen hats nicht. Die 750–Jahrfeier geht weiter mit staat „Erlebnisraum“. Man reibt sich die Augen: Der größte Stadtteil, Kreuzberg, wird in den Belagerungszustand versetzt, zum Manövergebiet für die Polizei erklärt. Die Bevölkerung ist alarmiert, verunsichert. Ist die Stadt mit Flugblättern überschwemmt, finden Kundgebungen statt, ist die linke Öffentlichkeit mobilisiert, Diskutanten in den Straßen? Nichts. Der Citoyen ist ausgewandert, der Republikaner zuhause, und die Opposition tut ihre Pflicht. Niemand leidet unter der politischen Leere, sie macht ja so schön schwerelos. Alarmierend ist nicht einmal so sehr die ungehemmte Lust am Bürgerkrieg von oben, sondern daß man nicht mehr weiß, wer diese Lust hemmen soll. Das apathische Einverständnis mit dem Verschwinden der politischen Sphäre, mit dem Tod einer kritischen Öffentlichkeit, mit der Oppositionsroutine hat Berlin nicht verdient. Keine Stadt ist so alternativ, keine hat so wenig politische Alternativen. Der Senat treibt die Stadt in Stadtteile auseinander, in Lager. Die Bürgerkriegsparteien stehen sich gegenüber, und da will niemand mehr reinreden. Politische Zuspitzung? Nein. Politisch Sprachlose versuchen durch Selbstenthauptung zu überleben. Klaus Hartung