Engagement und Seelenheil

■ Mit 120.000 Teilnehmern findet vom 17.–21. Juni der 22. Evangelische Kirchentag statt

„Seht, welch ein Mensch“ ist die auf Jesus bezogene Losung des Frankfurter Kirchentags. Dahinter steht das Engagement gegen Unrecht. Leiden, Unterdrückung und Gewalt, das den diesjährigen Kirchentag mehr als s Arbeitslosigkeit und der Asylsuchenden und nicht zuletzt das deutsche Geschichtsbewußtsein.

Der Philosoph Martin Heidegger hat bis zu seinem Tode nie den Mut gehabt, Stellung zu beziehen. Aber Heidegger wird als großer Philosoph gefeiert, Karl Jaspers hingegen weitgehend vergessen. Zu den Problemen mit der Verdrängung und der allerorten neu aufkommenden Frage der nationalen Identität und des deutschen Patriotismus im Zusammenhang mit der sogenannten Historikerdebatte wurde im Rahmen des 22. Evangelischen Kirchentages in Frakfurt vor einem aufmerksamen Publikum in verschiedenen Veranstaltungen ausführlich diskutiert. Die große Wertschätzung, die der Philosoph Heidegger immer noch genieße, sei Beweis für den Willen zur Verdrängung der deutschen Geschichte. Heidegger habe 1933 den deutschen Geist verraten, diese Feigheit sei typisch für eine geistige Haltung, die man auch heute wieder bei manchen Historikern bemerke. Der Politikwissenschaftler Manfred Henningsen, der auf Hawaii lebt, kritisierte in diesem Zusammenhang die Thesen von Historikern wie Ernst Nolte und Andreas Hillgruber, die im letzten Jahr Anlaß zum „Historikerstreit“ gewesen waren, als „Rela tivierung und Selbsttäuschung“. Drang nach Schuldlosigkeit Da stellt sich bei einer Veranstaltung im Jüdischen Gemeindehaus ein junger Mann hin. Er wagt mit borniertem Mut eine allgemeine Frage zu stellen. Er sei jetzt 23 Jahre alt. So alt, wie die meisten hier auf dem Kirchentag. Seine Eltern wären beim Holocaust zehn und elf Jahre alt gewesen. Was denn gefragt sei, müsse er heute noch Schuld haben? Und ein anderer, ebenso jung, will wissen, ob er nicht auch ein bißchen stolz sein darf auf sein Vaterland, zumindest auf das nach 1945. Gegen diesen starken Drang, schuldlos sein zu wollen und eine Identifikation mit Deutschland zu wünschen, helfe nur Wissen, meint Michael Friedmann vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Ein Wissen über den Nationalsozialismus, das heute noch erschreckend und katastrophal gering sei, gerade auch bei den Jugendlichen. Nur aus diesem Wissen heraus könne Verantwortung getragen und Schuld verhindert werden. Nationale Identität aber sei nur bezogen auf den Holocaust überhaupt denkbar, sagte an anderer Stelle Manfred Henningsen. Kaum Interesse an Geschichte Das Bedürfnis, mangelndes Geschichtsbewußtsein ein bißchen aufzubessern, scheint den Jugendlichen auf dem Kirchentag nicht sehr groß zu sein. Sie bevorzugen die Konzertveranstaltungen und bilden lieber süße Liebespaare und sitzen nicht, jedenfalls nicht in großer Menge, am Freitag morgen in der Veranstaltung: „Ist nach 42 Jahren alles vorbei?“ In einem Podiumsgespräch diskutieren der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik, der FAZ–Redakteur Jürgen Busche und der Geschichtswissenschaftler Hans Mommsen sowie die Psychologin Sophinette Becker und der Bischof Martin Kruse. Wie bei all diesen Veranstaltungen ist das Publikum eher älter, neugierig wissensdurstig und manchmal leider etwas unbedarft. Jedenfalls erkennt man das an den Fragen, die den Referenten gestellt werden. Verdrängung und Nationalismus Nicht nur die Rechten machen es. Willi Brandt macht es, Hans– Jochen Vogel macht es, die Friedensbewegung macht es. Sie Reden von der Partei deutscher Patrioten, vom Patriotismus, nationaler Identität und meinen damit die SPD. Die Friedensbewegung redet von der besonders gefährdeten BRD, führt nationalistische Argumente an. Micha Brumlik sieht darin eine dramatische Entwicklung zum Patriotismus, der die Linke als auch die Rechte in nationalen Emotionen zusammenschließt. Brumlik ist äußerst unruhig über diese Entwicklung, die er als Ausdruck für die steigende Tendenz sieht, den Nationalsozialismus aus der deutschen Geschichte herauszuschmeißen, bei der Stunde Null anzufangen, beziehungsweise anzuknüpfen an die Zeit vor Hitler und sich selbst als Nation zu beweisen, daß man doch immer gut gewesen ist. Auf gesellschaftlicher Ebene neuer Nationalismus von rechts und links, auf persönlicher Ebene Verdrängung. Was tun wir eigentlich mit der Geschichte? Die Psychologin Sophinette Becker geht dieser Frage nach. Ihre Klientel sind solche wie wir, Nachkommen von Tätern, die sich selten offen mit der Vergangenheit ihrer Eltern herumschlagen. Und „direkte Täter kommen nicht in Therapie, weil sie unter ihren Taten ja nicht leiden und kein Unrechtsbewußtsein haben“. Aber, so meint Frau Becker, Verdrängungen kommen indirekt mit der unbewußten Identifikation mit den Eltern durch. Mit Scheinidentikationen, wie dem Begriff des „atomaren Holocaust“ oder wie der „Judenstern, den sich ein Arbeitsloser an den Mantel heftet“, werden die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vermieden und die Verbrechen unbewußt verharmlost. Diese Art der Bewältigung, die nur eine Verdrängung ist, und nur eine sein kann, komme auch zum Ausdruck dort, wo der Staat Israel gerade bei einem Teil der Linken in besonderer Weise kritisiert würde. Hier kommt der tiefe Wunsch zum Ausdruck, daß die Juden doch schlecht sind, damit wir endlich frei von der bösen Geschichte sind. Auch wenn die Friedensbewegung mit der Parole herumläuft: „Ganz Deutschland soll vernichtet werden“, stecke da der unbewußte Wunsch drin, zu verschleiern und endlich zu vergessen, daß Deutschland andere vernichtet hat. Aber: Es gebe keine Bewältigung, es gebe nur eine Bearbeitung. Man müsse genau hinsehen und stehen lassen können und den Untergrund sichtbar machen, aus dem die Emotionen gespeist werden. Maria Neef–Uthoff