Sowjetische Architekten gegen die Monotonie

■ Auf einer Konferenz in Moskau wurde die bisherige Arbeitsweise scharf kritisiert / Genormtes Bauen degradiert Architekten zu bloßen Ausführungsgehilfen / Die Vorstellungen über „Demokratisierung“ und „Dezentralisierung“ des Bauens blieben aber noch verschwommen

Aus Moskau Alice Meyer

Nicht alles, was in den letzten drei Jahrzehnten in der UdSSR an Wohn– und Zweckbauten entstanden ist, stellt graue Gleichförmigkeit oder peinliche Geschmacklosigkeit dar. Zu dieser ironischen Bankrotterklärung gelangten Diskussionsredner auf dem 8. Kongreß der Architekten der UdSSR, der vom 16. bis 19. Juni in Moskau stattfand. Der Niedergang der sowjetischen Architektur liege einmal darin, daß der Architekt die Verbindung zu denen verloren hat, für die er baut, zum anderen darin, daß nicht der Architekt dem Bau– und Montagekombinat sagt, wie das Bauvorhaben auszuführen ist, sondern dieses ihm diktiert, wie das Projekt zu vereinfachen ist. Das Baukombinat als Generalauftragnehmer unterschreibt heute nur noch solche Projekte, bei denen das Gebäude rechtwinklig ist und nicht mehr als vier Ecken hat. Offen kritisierten die Baukünstler das beklemmende Einerlei der Wohnhochhäuser in den Neubaugebieten, die häßlichen, abstoßenden Industriebauten, die kalte Pracht der „Prestigeobjekte“ - diese baulichen Fehlleistungen, in die Milliarden und aber Milliarden Rubel investiert worden sind. Kritik und Selbstkritik auf dem Kongreß: „Wir befassen uns nur mit der materiellen Seite der Angelegenheit, nur mit der Produktion endloser Quadrat– und Kubikmeter von gewerblichen, öffentlichen und Wohnbauten und tragen nicht im geringsten Sorge dafür, was an Wohn– und Lebensqualität dabei herauskommt. Mit dem Ziel, das Empfinden der „Nicht–Vollwertigkeit“ des Bauens abzuschwächen, werden typische Kastenhäuser mit verschiedenen, mehr oder weniger kunstvollen Wandmalereien und Fresken versehen. Und das wird ausgegeben als „Synthese“ von monumentaler Kunst und Architektur. Die Ursprünge des Niedergangs der sowjetischen Baukunst liegen, wie das Vorstandsmitglied der Union der Architekten der UdSSR, W. Orelskij, erklärte, etwa in der Mitte der fünfziger Jahre. Die Kriegsschäden waren noch nicht beseitigt, viele Städte und Dörfer waren noch nicht voll wiederaufgebaut. Zig Millionen Menschen benötigten vor allem ein Dach über dem Kopf. Überfüllte Kommunalwohnungen, Keller und Baracken - das war damals die bedrückende Wohnsitua tion. Unerläßlich war da eine „revolutionäre“ Beschleunigung des Bauens, eine kräftige Ausweitung des Bauvolumens. So ist es kein Wunder, daß für die Industrialisierung der Bauprozesse votiert wurde. In dieser Zeit formierten sich nach und nach rund 500 große Bau– und Montagekombinate für den Hausbau. Die Organisationen haben bis heute nur eine Produktgruppe im Angebot: Häuser in Großplattenbauweise. Zentrale Projektierungsinstitute verordneten dem Land einheitliche Schemata der Bauleitplanung und der Siedlungsstruktur. Die „Typisierung“ nahm epidemische Formen an, sie Ergriff auch Lichtspielhäuser, Kulturpaläste, Klubs, Markthallen und Bürogebäude. Die Projektkosten für Bauten sind in der UdSSR die niedrigsten der Welt. Bis heute dient als ökonomische Hauptkennziffer des Bauens der Gesamtwert der Bau– und Montagearbeiten. Eine „komplexe“ Erfassung der einmaligen Baukosten einerseits und die Folgekosten auf der anderen Seite gibt es nicht. Das hat dazu geführt, daß sich Gebäude, deren Errichtung äußerst billig kam, viel später als sehr teure Objekte entpuppten. „Indem wir heute eine Kopeke sparen, verlieren wir morgen einen Rubel.“ Erstaunlich ist, daß er in der UdSSR bisher keinerlei Verknüpfung zwischen Städtebau und der Errichtung einzelner Gebäude gibt. Die beiden Sparten führen ein täglich sichtbares Eigenleben. Der Mensch fiel aus dem Blickfeld der Planer heraus: der Mensch mit seiner Bindung an Haus, Hof, Straße, an Geschichte und Eigenarten des Platzes, wo er lebt, der Landschaft, die ihn umgibt, Gigantomanie, zur Schau gestellter Prunk und unendliche Monotonie prägen die Städte. Große Hoffnungen knüpfen die sowjetischen Architekten aber dennoch an die Reorganisation des staatlichen Baukomitees der UdSSR (Gosstroi). Es ist ein Superministerium, das ein Dutzend Bauministerien auf Unions– und Republikebene beaufsichtigt. Jede technische Dokumentation für größere Bauvorhaben geht über die Schreibtische dieser Behörde. Daß es eine „Demokratisierung“ und „Dezentralisierung“ dieser Behörde geben muß, darüber waren sich alle einig. Das „Wie“ jedoch gibt weiter Rätsel auf.