„Besondere Rechtsprechung“

„Chile“, so erklärte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Fernando Volio, in einem Bericht über die Justiz unter Pinochet, „hat keine Militärjustiz, sondern Militärgerichte, die sich einer besonderen Rechtsprechung bedienen.“ Was das bedeutet, ist nicht schwer zu erklären: Obwohl die Todesstrafe nach der von Pinochet selbst entworfenen neuen Verfassung nicht vorgesehen ist, können die Militärgerichte Todesstrafen verhängen. Die Grundlage dafür ist ein im Mai 1984 erlassenes Anti–Terror– Gesetz, das per Dekret die Verfassung ergänzt und erst vor wenigen Monaten durch den Obersten Gerichtshof abgesegnet wurde. Dieses Anti–Terror–Gesetz ist Grundlage der Anklage gegen die 14 Oppositionellen, deren Aufnahme in die Bundesrepublik morgen im Bonner Kabinett verhandelt wird. Außer in den Fällen des Anti–Terror–Gesetzes wird die Militärgerichtsbarkeit bei illegaler Einreise ins Land, Verstößen gegen das Waffengesetz sowie Diffamierung von Regierungsstellen tätig. Damit fallen rund 95 schen Delikte in ihre Zuständigkeit. In erster Instanz besteht ein Militärgericht aus dem Richter und dem Staatsanwalt, die beide von dem zuständigen Divisionsgeneral ernannt werden. Der Staatsanwalt führt die Untersuchung, der Verteidiger des Angeklagten hat erst nach Abschluß dieser Untersuchung die Möglichkeit der Akteneinsicht. Damit hat Pinochet sich eine Sondergerichtsbarkeit aufgebaut, die heute wesentlich als Instrument zur Verfolgung der Opposition dient. In der ersten Instanz dieser Sondergerichtsbarkeit verhängte Todesstrafen müssen in einer zweiten Instanz bestätigt werden und können dann vor dem Obersten Gerichtshof des Landes noch einmal angefochten werden. Während jedoch das Oberste Gericht bislang immer nach politischer Opportunität handelte, hat ein Verurteilter in der zweiten Instanz eine kleine Chance. Neben drei Militärs sitzen hier auch zwei Zivilisten auf der Richterbank. Eine Bestätigung der Todesstrafe vor diesem Gericht muß einstimmig erfolgen, also mit Zustimmung der Zivilrichter. Außerhalb dieses Instanzenzuges kann der Präsident, also Pinochet, zum einen eine Begnadigung aussprechen, zum anderen aufgrund eines Dekrets aus dem Jahre 1975 (Nr. 504) eine Todesstrafe in einen Landesverweis umwandeln. Voraussetzung dafür ist, daß der Betreffende bereits angeben kann, in welches Land er ausreisen will und welche Institutionen ihn bei seinem Visumantrag unterstützen. Strittig ist im Moment, ob die Umwandlung der Todesstrafe erst nach Inkrafttreten eines rechtskräftigen Urteils möglich ist. In einem Rechtsgutachten, das am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin erstellt wurde, wird entgegen der Auffassung des Bonner Auswärtigen Amtes festgestellt, daß aufgrund der in Chile geltenden Übergangsregelungen der neuen Verfassung von 1980 der Präsident auch solche Personen des Landes verweisen kann, deren Prozeß noch nicht abgeschlossen ist. Die wichtigste Voraussetzung dafür dürfte der Wille eines anderen Landes sein, die Betreffenden tatsächlich aufzunehmen. JG