Die Gründerväter waren keine Halbgötter

■ In den USA versucht die Regierung mit den Jubiläumsfeiern zum 200. Jahrestag der Verfassung nationale Tradition zu konstituieren / Doch auch die „Founding Fathers“ waren nur gewöhnliche Politiker, für die Ideologie eine Sache war, soziale Praxis aber eine andere / Verfassungsdebatte um liberale Prinzipien wieder aktuell

Aus Monticello Stefan Schaaf

Der Landsitz Thomas Jeffersons ist nicht ohne Grund eine Touristenattraktion, für die Besucher gern fünf Dollar Eintritt bezahlen. Das elegante klassizistische Gebäude aus rotem Backstein in Monticello ist zum einen eine architektonische Meisterleistung, zum anderen genießt der Besucher von dort einen wunderschönen Blick über die grünen Hügel Virginias, zwei Autostunden südlich der Hauptstadt Washington. . Vor allem aber erlaubt der seit Jeffersons Zeiten unveränderte Zustand des Hauses, sich in die Zeit vor rund zweihundert Jahren zurückzuversetzen, als Monticello dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und späteren Präsidenten als Heimstatt diente. Es gibt gute Gründe, warum Jefferson neben Benjamin Franklin und George Washington zu den am meisten verehrten „Founding Fathers“ der Vereinigten Staaten gehört. Er war Philosoph und Naturwissenschaftler zugleich, „ein Amerikaner, der des Musizierens, Zeichnens, der Geometrie und Astronomie ebenso mächtig ist wie der Staatskunst und des Gesetzemachens“. Mit diesen Worten beschrieb ihn ein französischer Zeitgenosse, der Marquis von Chastellux, der ihn 1782 in Monticello besuchte. Die Stadt Charlottesville, zu Füßen von Berg und Landsitz Monticello gelegen, verdankt ihrem berühmtesten Sohn darüber hinaus die „University of Virginia“, die er entwarf, gründete und zu Anfang auch leitete. Sicher wäre Jefferson erfreut, daß seine ausgefeilte architektonische Planung der Universität zwei Jahrhunderte lang vor Eingriffen bewahrt geblieben ist und sich so wohltuend von den umgebenden baulichen Untaten abhebt; weitaus fraglicher erscheint aber, ob er die Zwecke gutheißen würde, denen sie heute dient, zu weit entfernt haben sich die amerikanischen Bildungsideale von Jeffersons Vorstellungen einer „nützlichen Wissenschaft“, die Architekten, Musiker, Ärzte, Historiker oder Gottesmänner hervorbringen sollte. Fraglich erscheint auch, ob Thomas Jefferson, der von einer „Republik der Freien und Gleichen“ und von nur durch die Tugend geleiteten Staatsbürgern träumte, nach einem Rundgang durch das heutige Charlottesville nicht geschockt auf seinen luftigen Hügel zurückkehren würde; hatte er doch 1784 von einer Reise durchs vorrevolutionäre Frankreich folgende Bemerkungen nachhause geschickt: „Die ungleiche Verteilung der Güter versetzt mich immer wieder in tiefes Grübeln. Ich frage mich, aus welchem Grund arbeitswillige Menschen zum Betteln gezwungen sind, wo doch so viel freies, unbebautes Land zur Verfügung steht“. So viel Elend werde durch diese enorme Ungleichheit produziert, daß gar nicht genug Gesetze erlassen werden könnten, um Eigentum umzuverteilen. Eine solche Vorstellung ist heutzutage natürlich die reine Ketzerei, und so sieht man auch in Charlottesville in den schwarzen Wohnvierteln Armut, zerfallende Häuser und zerrüttete Familien, während die Stadt von prächtigen Landsitzen steinreicher Pferdezüchter und Industrieller umgeben ist. Wessen Kinder es sind, die auf Jeffersons Universität gehen, läßt sich leicht erraten. Auch Jeffersons Verhalten unterschied sich allerdings in vielem von seinen hochfliegenden theoretischen Überlegungen. Schließlich war er selbst einer der reichsten Männer Virginias und besaß mehr als 200 Sklaven, die er in seinen Gärten in Monticello arbeiten ließ und deren Behausungen man dort heute noch besichtigen kann. In dieser Hinsicht unterschied Jefferson sich nicht von den übrigen Gründervätern, ihre republikanischen Ideale und die harte Realität klafften auseinander wie Tag und Nacht. Die Union in der Krise Als die 55 Delegierten der verfassunggebenden „Federal Convention“ im Mai 1787 in Philadelphia zusammenkamen, war der Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Monarchie gerade fünf Jahre beendet. Die dreizehn Staaten erstreckten sich über eine Fläche von 2.000 Kilometern Länge und 1.000 km Breite entlang der Atlantikküste, sie waren von nur vier Millionen Menschen, 600.000 davon Sklaven, bewohnt. Die überwiegende Anzahl von ihnen waren Farmer, die fast alles, was sie brauchten, eigenhändig produzierten. Außer für gelegentliche Besorgungen oder den sonntäglichen Kirchgang verließen sie kaum ihren Hof. Folglich ging das politische Leben ohne ihr Zutun vonstatten, selbst wählen durfte nur, wer einen Eigentumsnachweis erbringen konnte. Völlig ausgeschlossen vom politischen Leben waren Frauen ebenso wie Schwarze, Indianer und Mittellose. Die schmale politische Klasse war obendrein in sich ebenso zerstritten wie die Einzelstaaten untereinander. Eine der wichtigsten Streitfragen war bereits Ende des 18. Jahrhunderts die Institution der Sklaverei, bei der sich Nord und Süd gegenüberstanden. Sechs Jahre lang war die zerbrechliche Union vom „Continental Congress“ und mit den „Articles of Confederation“ regiert worden. Dann war deutlich geworden, daß die ökonomische Integration der 13 Staaten und die immer wieder aufbrechenden Streitigkeiten zwischen ihnen eine echte Nationalregierung und eine nationale Währung verlangte. Eine „Versammlung von Halbgöttern“ nannte Thomas Jefferson die Delegierten der Federal Convention. Er selbst gehörte nicht zu ihnen, sondern war als amerikanischer Botschafter in Paris zur Beobachtung aus der Ferne gezwun gen - was er um so mehr bedauerte, als die Beratungen wider seinen brieflichen Protest in absoluter Geheimhaltung stattfanden. Doch ansonsten hatten die Teilstaaten ihre besten Köpfe nach Philadelphia geschickt, darunter George Washington, Benjamin Franklin und James Madison. Von Mai bis September 1787 debattierten sie die Zukunft der Nation und entwarfen eine Regierungsstruktur, die im wesentlichen bis heute gültig geblieben ist. Mehrere Male drohte das Unterfangen zu scheitern, vor allem, weil die kleineren Staaten nicht von ihrer bis dahin ebenbürtigen Stellung mit den großen und bevölkerungsreicheren Teilstaaten abgehen wollten. Am Ende stand ein Kompromiß, der allen Staaten wenigstens in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, ungeachtet ihrer Bevölkerungszahl zwei Vertreter zubilligte. Ein zweiter Punkt, über den lange debattiert wurde, war die Form der Exekutive. Zweifel wurden über den Vorschlag laut, daß eine einzige Person die Exekutivgewalt in sich vereinigen sollte, da dies, so meinten manche, „den Fötus einer Monarchie“ in sich berge, vor allem, da man zunächst an eine wesentlich längere Amtszeit des Präsidenten dachte. Alexander Hamilton schlug gar vor, daß eine Person „bei gutem Benehmen“ ein Leben lang dieses Amt ausführen solle. Kaum lösbar schien der Konflikt um die Sklaverei, wobei die Gegner der Sklaverei im Norden sich in einer schwierigen Lage befanden: sollten sie verlangen, daß die Zahl der Sklaven bei der Festlegung der Sitze im Repräsentantenhaus berücksichtigt wird? Dann würde der Einfluß der Südstaaten erheblich anwachsen. Wenn Sklaven jedoch keine Menschen mit Recht auf Vertretung im Parlament seien, gebe man den Sklavenhaltern recht, die diese als Eigentum betrachteten und ihnen absprachen, den Weißen ebenbürtige Menschen zu sein. Der faule Kompromiß um die Sklaverei Sollte die Verfassung das Naturrecht, wonach alle Menschen gleich sind, oder das Recht auf Eigentum, für das man gegen die despotische Tyrannei des englischen Königs Georg III. gestritten hatte, schützen? Die Delegierten einigten sich schließlich auf einen Kompromiß: Sklaven sollten zu drei Fünfteln bei der Festlegung der Parlamentssitze berücksichtigt werden. Die Union blieb gewahrt, doch mehr als siebzig Jahre später rächte sich die unentschiedene Taktiererei der Delegierten, als nämlich der Bürgerkrieg ausbrach. Thurgood Marshall, der einzige Schwarze unter den neun Richtern des Supreme Court, warnte denn auch kürzlich vor ei ner Überschätzung der „Founding Fathers“: Sie hätten eine politische Struktur geschaffen, in der nach ihrem Willen für Frauen und Schwarze kein Platz gewesen wäre. Am Ende der Beratungen in Philadelphia stand fest, daß die Union von einem Zweikammerparlament regiert werden würde, in dem das obere Haus, der Senat, „zusammengesetzt aus Männern mit großem und nachgewiesenem Eigentum“, das Land vor „den Turbulenzen der Demokratie“ schützen solle - so die damalige Vorstellung von Gouverneur Morris aus Pennsylvania. Thomas Jefferson mißbilligte die Vorstellung, daß Senatoren vom Volk gewählt werden sollten und setzte sich stattdessen für eine „Versammlung der Weisesten“ ein. Die Befugnisse von Parlament, Regierung und Gerichten waren sorgfältig gegeneinander abgewogen, damit keine der Gewalten über die anderen dominieren könne. Das gleiche galt für das Parlament selbst: wenn der Senat nicht zustimmte, konnte das Repräsentantenhaus beschließen, was es wollte - es blieb folgenlos. Dieses System der „Checks and Balances“ machte die Staatsgeschäfte recht schwerfällig, doch sollte der Bundesregierung ohnehin nur soviel Macht zukommen, wie für das Funktionieren der Union unbedingt notwendig. Alles, was der Bundesregierung nicht in der Verfassung ausdrücklich zugesprochen wurde, blieb in den Händen der Einzelstaaten. Deshalb fehlte zunächst auch die „Bill of Rights“, der Grundrechtskatalog, der für überflüssig erachtet wurde. Als Jefferson in Paris den Text der Verfassung erhielt, war dies einer seiner Hauptkritikpunkte. Außerdem, so befand er, sei der Bundesregierung zuviel Macht zugesprochen worden. Jefferson nahm damit zwei wichtige Stränge der Verfassungsdiskussion bis um heutigen Tage vorweg: Liberale Stimmen warnen im Jubiläumsjahr, die Rechte des einzelnen würden vom Staat immer stärker bedroht, während konservative Kritiker die Forderung nach mehr Rechten der einzelnen Bundesstaaten als Vehikel benutzen, um ihren politischen Ideen zu stärkerer Geltung zu verhelfen. Chris Dunn, Anwalt bei der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) in Washington, beobachtet dabei mit Sorge, wie die Reagan–Regierung versucht, Bürgerrechte immer weiter auszuhebeln. Wenn es nach Justizminister Meese ginge, gäbe es eine Rückkehr zu Verhältnissen wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die „Bill of Rights“ noch nicht für die einzelnen Bundesstaaten verpflichtend war und jeder von ihnen nach Gutdünken Persönlichkeitsrechte einschränken konnte. Für Aufsehen haben die Ansichten von Ed Meese wiederholt gesorgt, so die obligatorische Rechtsbelehrung bei Festnahmen abzuschaffen; dies mit der ausdrücklichen Begründung, wer nichts verbrochen habe, bekomme es eben auch nicht mit der Polizei zu tun. Gleichfalls auf Kritik der Bürgerrechtsorganisation ACLU gestoßen ist ein entscheidender Spruch des Supreme Court über die Zulässigkeit der Todesstrafe. Dabei ging es um die statistisch belegte Tatsache, daß ein Schwarzer sehr viel wahrscheinlicher als ein Weißer für das gleiche Verbrechen zum Tode verurteilt wird. Dies sei zwar richtig, sagten die Richter, doch müsse ein zum Tode Verurteilter Schwarzer individuell nachweisen, daß seine Hautfarbe für das Urteil verantwortlich war - was so gut wie unmöglich ist. Anwalt Chris Dunn kritisiert außerdem die Forderung nach umfassenden Drogen– und AIDS–Tests, zu denen die Reagan–Administration ganze Personengruppen zwingen will. Dies verletze den verfassungsmäßigen Schutz vor Durchsuchung und Festnahme. Konservative Kritik klagt dagegen über das Recht auf Abtreibung, das der Oberste Gerichtshof 1973 zugestanden hat und dessen Abschaffung die Reagan–Administration bisher erfolglos betreibt; sie kritisiert das richterliche Verbot des Schulgebets und generell den „richterlichen Aktivismus“, der den Absichten der „Founding Fathers“ zuwiderlaufe. Bruce Fein, Verfassungsrechtler bei der ultrakonservativen „Heritage Foundation“, kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem den Obersten Gerichtshof, der immer mehr Streitfragen selbst zu entscheiden versuche, anstatt, wie von den „Gründervätern“ beabsichtigt, die meisten Fragen den Parlamenten der Bundesstaaten zu überlassen. Daß diese Argumentation jedoch nur ein Vorwand ist, um diese Streitfragen eben eher in ihrem Sinne zu lösen, beweist eine Publikation der „Heritage Foundation“, in der Franklin Roosevelts liberaler Justizminister Jackson zitiert wird, wie er im Jahre 1936 den gleichen Vorwurf an einen damals konservativ eingestellten Supreme Court macht. Während Jackson heute als Zeuge für die Legitimität konservativer Richterkritik herhalten muß, daß die Verfassungsdiskussion vor allem eine politische und keine legalistische sein muß, meint Gary Peller, Rechtshistoriker an der University of Virginia in Charlottesville: „Die Linke kritisiert sowohl die Konservativen wie die Liberalen wegen der Fetischisierung der Verfassung, durch die alle vom Zugang zur Macht Ausgeschlossenen gezwungen werden, ihre Anliegen durch das Raster der Verfassung zu filtern und deren Artikel als einziges Handwerkszeug zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu benutzen. Die gesamte Idee des Legalismus und eines gesetzlichen Rahmens hält die Menschen davon ab, ihre Anliegen vorzubringen, und zwingt ihnen hierfür entfremdete Formen auf.“